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"Ich stelle mich schlafend" Von Willensbrüchen und einer toxischen Beziehung

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Yasemin lebt in einer Hochhaussiedlung.

Yasemin lebt in einer Hochhaussiedlung.

(Foto: picture alliance / Jochen Tack)

Ein Blick in die bernsteinfarbenen Augen von Vito und um Yasemin ist es geschehen. Doch sie wird von ihm manipuliert und erniedrigt. In ihrem Roman "Ich stelle mich schlafend" erforscht Deniz Ohde eine toxische Beziehung und weibliche Ohnmacht.

"Yasemin war aus einem Willensbruch gezeugt worden." Dieser Schlüsselsatz fällt fast identisch gleich mehrfach in Deniz Ohdes neuem Roman "Ich stelle mich schlafend". Die Mutter wollte eigentlich gar nicht, war aber zu betrunken, wie sie lachend berichtet. Der Vater nutzte das aus. Die Heirat Jahre später soll das nach außen hin irgendwie kitten, aber die Ehe bleibt lieblos. Ebenso wie die Beziehung zur Tochter.

Ein weiterer Vorfall gibt dem Buch seinen Titel: Als Yasemin, gerade 14 Jahre alt, bei ihrer Nachbarin und Ersatzmutter Lydia übernachtet, wacht sie davon auf, dass sich deren Freund mit ins Bett stiehlt. Lydia wehrt sich mit Verweis auf "das Kind", aber er lässt nicht von ihr ab und schließlich gibt sie nach. Während des Geschlechtsaktes tut Yasemin so, als ob sie gar nicht wach geworden sei und sie spürt "den Gefallen (…), den Lydia ihrem Freund tat".

Diese beiden übergriffigen Momente, in denen Männer über den Körper von Frauen verfügen, prägen sich in Yasemins Leben ein. Sie fühlt sich beschmutzt und schuldig. Die intensive Reinigung sowohl ihres Körpers als auch ihrer Wohnung wird ihr zur Routine und sie entschuldigt sich für alles, auch für Dinge, für die sie gar nichts kann.

Als ein orthopädischer Techniker ihr als jungem Mädchen beim Anfertigen eines Korsetts, mit dem ihre verformte Wirbelsäule aufgerichtet werden soll, über den Brustansatz streicht, lächelt sie das einfach weg. Und als sie im Bus die Hand eines Fremden auf ihrem Oberschenkel spürt, versucht sie beiläufig zu schauen. "Verhalten: unauffällig freundlich" steht in dem Arztbrief des Mediziners, der ihre Skoliose behandelt.

Gewalt, Schuldgefühle, Scham

Mit ihrem Debüt "Streulicht" hat Deniz Ohde 2020 die Literaturwelt begeistert. Das Buch, das von sozialer Herkunft und illusorischer Chancengleichheit handelt, wurde mehrfach ausgezeichnet. In ihrem zweiten Roman "Ich stelle mich schlafend" rückt sie erneut eine junge Frau in den Fokus und erzählt anhand ihrer Protagonistin und der Menschen in deren Umfeld von den unterschiedlichen Ausprägungen psychischer und physischer Gewalt gegen Frauen, von Schuldgefühlen und Scham. Und von einer toxischen Beziehung.

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Aufgewachsen ist Yasemin in einem Hochhauskomplex, Fußballtor und Basketballkörbe auf dem Bolzplatz haben keine Netze, "weil sie sofort zerschnitten oder angezündet worden wären". Am "elften Januar um sieben Uhr siebenundzwanzig, sieben Wochen vor ihrem vierzehnten Geburtstag" erhascht Yasemin auf dem Weg in die Schule einen flüchtigen Blick in die bernsteinfarbenen Augen des drei Jahre älteren Vito aus dem Nachbarhaus und ist schockverliebt. Sofort ist ihr klar: Mit Vito zusammen zu sein, das würde sie retten - vor dem Schweigen in der elterlichen Wohnung -die Mutter bügelt und faltet fast manisch Wäsche, der Vater ist wochenlang auf Montage -, vor Lydias "verschlucktem Nein".

Aber Yasemins Jugendschwarm ist keine Rettung. Im Gegenteil. Als sich die beiden 20 Jahre später wiedertreffen, zeigt sich, was sich schon in der Jugend abzeichnete: Aus dem eher schweigsamen und manchmal - so verniedlicht es seine Mutter - "fuchsteufelswilden" Vito ist ein Mann geworden, der nur um sein eigenes Ego kreist und seinen Mitmenschen nicht den Hauch von Empathie entgegenbringt. Yasemin arbeitet inzwischen in einem Kaufhaus und lebt mit dem ruhigen und aufmerksamen Hermann zusammen, bei dem sie zum ersten Mal eine Ahnung davon bekommt, was Liebe sein könnte. Doch sie verlässt ihn wie unter einem inneren Zwang, um sich erneut in eine Beziehung mit Vito zu stürzen - der sie manipuliert und erniedrigt.

Sätze, die nachhallen

Auch in "Ich stelle mich schlafend" wird Ohde wieder zur schmerzhaft-scharfen Beobachterin weiblicher Lebensrealitäten, dieses Mal mit dem Blick auf eine gewaltvolle Beziehung. Yasemin lebt das Schema von Unterwerfung und ständiger Willensbrüche weiter, mit dem sie aufgewachsen ist. Viele Männer hat sie nur aus Mitleid geküsst oder damit sie nicht sauer auf sie sind. Bei Vito denkt sie oft "Nein", hört aber "auf ihr Pflichtgefühl, (…) es muss sein, ein Satzfetzen, der ihr in den Sinn kam, dazu das Gefühl der Unausweichlichkeit".

Ohde verwebt für ihre Geschichte zahlreiche - manchmal vielleicht etwas überdeutliche - Metaphern und Motive miteinander. So liest sich Yasemins nach einem Reitunfall verformtes Rückgrat wie ein Symbol weiblicher Unterdrückung - und die Wirbelsäule verliert in genau dem Moment wieder an Stabilität, als Vito erneut in Yasemins Leben auftaucht.

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Am Ende ist es ein Zufall, der verhindert, dass Yasemin unter einer weißen Plastikplane endet wie ihre Freundin Imma. Dass sie nicht zu den Frauen dazugezählt werden muss, die von ihrem Partner oder Ex-Partner umgebracht werden - in Deutschland geschieht statistisch gesehen fast jeden dritten Tag ein Femizid.

"Ich bin in Vito gelaufen wie in ein offenes Messer. Ich habe geglaubt, in ihm ein neues Leben zu finden, dabei war es Vernichtung, die ich mir in Wirklichkeit erhoffte." Es sind zahlreiche Sätze wie dieser, die in der Leserin nachhallen. Ohde weiß eindrucksvoll mit Sprache umzugehen und schreibt dicht, präzise und kraftvoll von weiblicher Ohnmacht. Am Ende entlässt sie ihre Protagonistin dann mit einem Hoffnungsschimmer aus dem Buch: Yasemin beginnt, sich aus ihren Verstrickungen zu befreien.

Quelle: ntv.de

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