"Überlebe wenigstens bis morgen"Aus der Welt gefallen

Mehrere Monate lag die tote Nelly im Stuttgarter "Tatort" unentdeckt in ihrer Wohnung - ein gruseliges Phänomen, das immer Schlagzeilen macht. Für einen traurigen Superlativ sorgte Hedviga Golik aus Zagreb.
Sie hatte in ihrem Dachzimmer in Medveščak, einem Stadtteil von Zagreb, wohl noch einen Tee zubereitet, es sich in ihrem Sessel vor dem Fernseher gemütlich gemacht. Und war dann einfach verstorben. Hedviga Golik, so lautete der Name der ehemaligen Krankenschwester, galt unter den Nachbarn als wunderlich. Mal schnauzte sie Passanten an, ein anderes Mal ließ sie Geld in einem Eimerchen hinunter, damit ein Bekannter für sie Einkäufe erledigte. Es hieß, sie sei Mitglied in einer komischen Sekte. Manchmal war sie wochenlang fort und vermietete ihre winzige Wohnung unter.
Dass sie plötzlich wie vom Erdboden verschluckt schien, fiel kaum auf, die Menschen in Zagreb interessierten sich ohnehin für andere Dinge. Man schrieb das Jahr 1966. Die Absetzung des Verantwortlichen für innere Sicherheit, Aleksandar Rankovic, sorgte für Aufsehen. Die Fußball-WM in England. Dinamos 2:6-Klatsche im Pokalfinale gegen OFK Belgrad. Die Mond-Sonde Lunar Orbiter 1. "Pet Sounds", das neue Album der Beach Boys. Es sollten über 42 Jahre vergehen, bis man Hedviga Golik entdeckte. 2008 ließ ein Gerichtsvollzieher die Tür zu ihrer Wohnung aufbrechen. Da saß die ehemalige Krankenschwester vor dem Fernseher, mumifiziert, die Teetasse voller Spinnenweben, das Fenster einen Spalt geöffnet, in eine Wolldecke gewickelt, gegen die Kälte.
Wie aus einem Gruselroman
Eine Geschichte wie aus einem Gruselroman, ein Fall fürs Kopfkino, die Vorstellung, wie das Leben um jenes Haus in Medveščak einfach so weiterläuft, während Hedviga Golik still im Sessel sitzt, unentdeckt und unbeweint. Nelly Schlüter (Bayan Layla) ging es im Stuttgarter "Tatort" ähnlich - und doch ganz anders. Keine vier Jahrzehnte, "nur" einige Monate lag die junge Frau auf dem Parkettboden am Fußende ihres Bettes, die Hände gefesselt, um den Hals ein Strick, Todesursache "Atypisches Erhängen". Für Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) entwickelte sich "Überlebe wenigstens bis morgen" zu einem emotionalen Fall, rund um Nelly ein Personengeflecht, das einerseits involviert, andererseits merkwürdig unbeteiligt schien.
Es ist eine Geschichte als Parabel aufs Leben anno 2025, von den Folgen der Corona-Pandemie noch nicht vollends erholt, im Kosmos der Sozialen Medien verfangen, taugt die Welt noch mehr als im Jahre 1966 als universelle Untiefe, in der es sich verschwinden lässt. "I'm not here, I'm not here / In a little while, I'll be gone", singt Thom Yorke im Radiohead-Song "How to disappear completely". So ganz verschwindet Nelly Schlüter nicht. Daran hat auch eine Darknet-Plattform ihren Anteil, deren Betreiberin, eine Art Seelen-Fischerin, die sich an der Todessehnsucht ihrer Chatpartnerinnen und -partner ergötzt und diese bis zum Abgrund und darüber hinaus, buchstäblich in den Suizid, treibt. Damit gab es einen weiteren realen Bezug. Jüngst hatte der Fall des "White Tiger" für Aufsehen gesorgt, ein 21-Jähriger aus Marienthal, der zahlreiche Straftaten im Netz begangen hatte, darunter auch sogenannte "Selbstmord-Challenges".
Eine Welt von heute, gegen die jene der Hedviga Golik fast märchenhaft erscheint, ein fernes Land, in dem man kommod beim Tee abtritt und nicht, wie im Falle von Nelly und einigen anderen, von fernen Stimmen aus dem WWW zum Äußersten getrieben. Dabei ist dieses biologische Verschwinden nicht das einzige seiner Art, es gibt eine zeitgenössische Form des Abgangs, die nicht gleich das Leben kostet. "Jōhatsu" ist der Titel einer deutsch-japanischen Doku von Andreas Hartmann und Arata Mori, die jetzt in der arte.tv-Mediathek zu sehen ist. "Die sich in Luft auflösen" ist der Untertitel, im Mittelpunkt stehen Menschen wie Sugimoto, der zu seinem Sohn sagt, er gehe auf Geschäftsreise und dann im Wirrwarr Tokios auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Kanda, der auf der Flucht vor der Yakuza ist, Goto, die verzweifelt ihren verschwundenen Sohn sucht. Und Privatdetektiv Kudo, der sein Geld damit verdient, die "Verdunsteten" wiederzufinden. Ein leiser, sehr melancholischer Film, der beide Seiten der Geschichte betrachtet und sie mit viel Respekt und Empathie porträtiert - die Verschwundenen und jene, die zurückbleiben.
Auch im kommenden "Tatort", dem zweiten Fall des neuen Frankfurter Teams Maryam Azadi (Melika Foroutan) und Hamza Kulina (Edin Hasanovic), geht es um Verschwundene - die dreijährige Viktoria Reiter und ihren Vater Julian. Am 30.11. um 20.15 Uhr in der ARD: "Tatort: Licht".