Mit Diktator-Parodie zum Erfolg? Die Höhen und Untiefen im ersten ESC-Halbfinale
09.05.2023, 14:52 Uhr Artikel anhören
Schaffen sie es tatsächlich ins Finale? Let 3 aus Kroatien.
(Foto: picture alliance / PIXSELL)
37 Länder nehmen in diesem Jahr am Eurovision Song Contest teil. Doch nur 26 sind auch wirklich bis zum Schluss mit von der Partie. Im ersten Halbfinale wird schon einmal ausgesiebt. Mit dabei: eine Top-Favoritin auf den Gesamtsieg, aber natürlich auch so einige schräge Vögel.
Der Exodus beim Eurovision Song Contest (ESC) ist im vollen Gange. Und das nicht nur, weil mit Russland und Belarus, die seit 1994 beziehungsweise 2004 regelmäßig an dem Wettbewerb teilgenommen hatten, zwei Länder nicht mehr auf der Gästeliste stehen. Auch Bulgarien und die Balkan-Länder Montenegro und Nordmazedonien haben sich von dem Contest verabschiedet. Die Folge: Lediglich 37 Nationen treten in diesem Jahr beim Contest an - so wenige wie zuletzt 2014.
Aber natürlich sind das immer noch zu viele für das große Finale am Samstagabend. Und so finden abermals zwei Halbfinale statt, in denen rund ein Drittel der jeweiligen Starter am Ende nach Hause geschickt wird. Und zwar ausschließlich vom Publikum. So hat die für den ESC verantwortliche Europäische Rundfunkunion (EBU) mal wieder an den Regeln geschraubt und zumindest in den Halbfinalveranstaltungen die umstrittenen Jurys abgeschafft.
Den Auftakt macht nun das erste Semifinale am Dienstagabend, in dem insgesamt 15 Teilnehmer um eines der zehn zu vergebenden Final-Tickets buhlen, ehe am Donnerstag in Runde zwei noch einmal 16 Länder um zehn weitere Plätze kämpfen. Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien sind als die sogenannten "Big 5" ohnehin für das Finale gesetzt. Ebenso die Ukraine als Vorjahressieger, auch wenn die Briten in Vertretung für das vom Krieg erschütterte Land die Veranstaltung in diesem Jahr in Liverpool ausrichten.
Tanzt Liverpool den "Cha Cha Cha"?
Doch damit genug der Vorrede - und mitten hinein ins Getümmel des ersten Halbfinales. Schließlich läuft hier laut Buchmachern bereits eine Favoritin für den ESC-Sieg auf. Ihr Name? Loreen natürlich. 13 Jahre nach ihrem ikonischen Triumph mit "Euphoria" in Baku möchte sie die Gesangskrone ein weiteres Mal nach Schweden holen. Ihr Titel: "Tattoo", ein Liebeslied mit "cinematischer" Anmutung, wie sie im ntv.de Interview erklärt. Dabei setzt Loreen abermals auf eine imposante Performance unter einer schwebenden Plattform.
Wenn man den Wettbüros und sogenannten Expertinnen und Experten Vertrauen schenken darf, dann hat aber auch Käärijä aus Finnland allerbeste Chancen, sich in Liverpool bis ganz nach oben zu singen - mit einer wilden Mixtur aus schrillem Neon-Outfit, Ghetto-Aura und Schattenspielen auf der Bühne. Ob auch Joachim Llambi bei seinem Song "Cha Cha Cha" in Tanzlaune gerät, sei allerdings einmal dahingestellt. Schließlich reißt Käärijä eine Art Techno-Punk mit Anleihen bei der Neuen Deutschen Härte à la Rammstein herunter, ehe das Lied in der Mitte bricht und mit einem fast schon ballermannartigen Mitsing-Refrain aufwartet. Dass der Beitrag so weit vorn gesehen wird, dürfte vor allem dem krachenden Sound von "Cha Cha Cha" geschuldet sein, der tatsächlich heraussticht. Eine musikalische Offenbarung aber ist das Lied nicht.
Ebenso wenig wie "Queen of Kings" von Alessandra aus Norwegen. Bei ihrem Auftritt fühlt man sich fast ein bisschen an Dschinghis Khan erinnert - im Positiven wie im Negativen. Nachdem sich die 20-Jährige im königlichen Outfit, auf das Camilla vielleicht etwas neidisch sein dürfte, durch den sakralen Beginn des Songs geschleppt hat, groovt sie sich auch schon im Stile aktueller Popstars wie Ava Max gnadenlos in die Gehörgänge. Dass Alessandra einige Chancen in Liverpool eingeräumt werden, liegt sicher auch an der guten Performance ihres Songs im Vorfeld des Contests, der auf den Streaming-Plattformen bereits ein Hit ist.
Ein "Einhorn" ist auch dabei
Die Lauscher aufstellen werden einige im ersten Semifinale zudem sicher bei den Beiträgen aus Tschechien, Portugal und Israel. Die tschechische Frauen-Formation Vesna bringt mit "My Sister's Crown" osteuropäische Folklore auf die Bühne, wie man sie zuletzt vor allem in polnischen Beiträgen beim ESC zu hören bekommen hatte. Gepaart mit Hip-Hop-Anklängen hat der Song aber durchaus das gewisse Etwas. Anders ist die Sache bei Mimicat aus Portugal gelagert, deren Lied "Ai Coração" ebenfalls folkloristisch anmutet, von vorne bis hinten aber im Stile eines Revue-Songs daherkommt. Man merkt, dass die Portugiesen bei der Auswahl ihrer Beiträge immer noch vom Sieg Salvador Sobrals im Jahr 2017 beflügelt sind. Israel wiederum schickt die in der Heimat bereits bekannte Sängerin Noa Kirel ins Rennen. Einhörner sind ja echt hip - und so fühlt sie sich laut Songtext dann auch wie ein "Unicorn". Aufsehen erregend ist jedoch vor allem ihre Tanzeinlage auf der Bühne - versprochen.
Sucht man nach den Flops des ersten Semifinales, wird man in Irland und Aserbaidschan fündig. "We Are One" schmettert die irische Gruppe namens Wild Youth dem Publikum entgegen, wirkt dabei aber dann doch eher wie brave Internatsschüler auf Klassenfahrt. Ihren Reißbrett-Popsong können dabei leider auch ihre imposanten Glitzer-Outfits nicht aufwerten. Das Duo TuralTuranX aus Aserbaidschan scheint dagegen nicht nur in Sachen Outfit hängengeblieben zu sein. Seine Ballade "Tell Me More" plätschert so unscheinbar vor sich hin, dass ihr auf manchen Wettbüro-Listen sogar der letzte Platz von allen ESC-Beiträgen in diesem Jahr zugedacht wird.
Kroatien holt den Diktator raus
Tja … und dann wäre da noch ein Beitrag, bei dem die Zuschauerinnen und Zuschauer definitiv Augen machen. Let 3 aus Kroatien lassen bei ihrer Performance mit "Mama ŠČ!" den Diktator raus - in bunten Fantasie-Uniformen, mit Schnauzer und letztendlich auch im Feinripp. Frontmann Zoran Prodanović weckt mit seiner Aufmachung auf den ersten Blick womöglich Adolf-Hitler-Assoziationen. Tatsächlich soll seine Parodie jedoch wohl dem ehemaligen sowjetischen Diktator Josef Stalin gelten - und als Kritik an Russland verstanden werden.
Obwohl sich die ESC-Verantwortlichen stets gegen politische Statements auf der Bühne wehren, winkten sie den kroatischen Beitrag von Let 3, die tatsächlich schon lange im Geschäft sind und es bereits auf stolze zehn Alben bringen, in diesem Jahr durch. Denn: Der Text lässt zwar viel Interpretationsspielraum, beinhaltet jedoch keine eindeutig politischen Aussagen. Was man von der Nummer hält, bei der es sich musikalisch dann doch um ein gewöhnungsbedürftiges Gebräu von Versatzstücken handelt, muss sicher jeder selbst beurteilen.
Viele Buchmacher sehen Let 3 tatsächlich weit kommen beim ESC - sogar weiter als die deutschen ESC-Hoffnungsträger von Lord of the Lost. Das wäre dann aber doch ein ziemliches Husarenstück.
Anmerkung: In einer ersten Version des Textes hatten wir nahegelegt, Let-3-Sänger Zoran Prodanović parodiere Adolf Hitler bei seinem Auftritt. Zwar erklärt die Band, es gehe ihr bei ihrer Performance um eine grundsätzliche Kritik an allen Diktatoren auf der Welt. Im Fokus steht dabei jedoch offensichtlich Stalin -mit verstecktem Bezug auch zur heutigen Situation in Russland. Wir bitten, das Missverständnis zu entschuldigen.
Quelle: ntv.de