Viel Rosa, viel Bein, viel Oh Uh Die Höhen und Untiefen im zweiten ESC-Halbfinale
11.05.2023, 15:38 Uhr Artikel anhören
Da kommt Stimmung auf: Blanka aus Polen.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
16 Beiträge für das große ESC-Finale am Samstagabend sind bereits gefunden. Nun gilt es, im zweiten Halbfinale noch einmal knallhart auszusieben und die restlichen zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer aufzustöbern. Warm anziehen wollen sich dafür jedoch die wenigsten.
Hat Schweden oder Finnland den Eurovision Song Contest (ESC) bereits im Sack? Jedenfalls haben die aktuell mit Favoritenstatus gesegneten Beiträge das erste Semifinale des Wettbewerbs offenbar locker überstanden: die zum großen ESC-Comeback ansetzende Schwedin Loreen mit ihrem Song "Tattoo" und der finnische Mister "Cha Cha Cha" Käärijä. Ganz sicher wissen wir es nicht, da das detaillierte Abstimmungsergebnis im Semifinale traditionell nicht bekannt gegeben wird, um kein Präjudiz für den Ausgang des Finales zu schaffen.
Zudem haben ja auch noch acht andere hoffnungsfrohe Kandidatinnen und Kandidaten die Hürde des ersten Halbfinales genommen - darunter etwa Israels "Einhorn" Noa Kirel ("Unicorn"), Norwegens ESC-Königin Alessandra ("Queen of Kings") und die umstrittene Diktatoren-Parodie von Let 3 aus Kroatien ("Mama ŠČ!"). Mit den Beiträgen des Titelverteidigers Ukraine (TVORCHI mit "Heart of Steel") und der sogenannten "Big Five" kommt im Finale weitere Konkurrenz hinzu, wobei insbesondere die Acts aus Italien ("Due Vite" von Marco Mengoni), Frankreich ("Évidemment" von La Zarra) und natürlich auch Deutschland ("Blood & Glitter" von Lord of the Lost) jede Menge Potenzial für eine gute Platzierung haben.
Last but not least liefert nun auch noch das zweite Halbfinale am Donnerstagabend eine ganze Fuhre an weiteren Final-Tickets - abermals kommen hier 10 von diesmal 16 Starterinnen und Startern die entscheidende Runde weiter. Allerdings lässt sich schon im Vorfeld sagen: Auf den ersten Blick ist die zweite Auslese deutlich schwächer besetzt als ihre Vorgängerveranstaltung am Dienstag. Trotzdem scheint so mancher Teilnehmer für sich rosa zu sehen - zumindest was die Auswahl seiner Klamottenfarbe betrifft. Auch viel nacktes Herrenbein ist auf der Bühne zu entdecken - der ESC-Trend in diesem Jahr geht zur kurzen Hose. Andrew Lambrou kommentiert das alles mit viel "Uh Uh" in seinem Song "Break a Broken Heart", während Voyager aus Australien dann bei "Promise" doch eher zum "Oh Oh" neigen.
Voyager kommen vorgefahren
Apropos Australien: Voyager dürften zu denen gehören, die den Einzug ins Finale sicher haben. In Liverpool wird die Gruppe um den charismatischen Sänger Daniel Estrin, der übrigens in Niedersachsen zur Welt kam, jedenfalls kräftig umjubelt - und das sicher nicht nur wegen Estrins asymmetrischer Frisurenkunst. "Promise" kommt mit seinem Einsatz von Growl und harten Riffs tatsächlich ausgesprochen gut an und könnte so im Finale dann auch mit "Blood & Glitter" um die Gunst der Metal-Fans konkurrieren. Ebenso könnte dies aber natürlich ein Fingerzeig sein, dass auch Lord of the Lost beim ESC auf dem richtigen Dampfer unterwegs sind. Voyager hingegen nehmen lieber das Auto: Sie platzieren tatsächlich eine Karre auf der ESC-Bühne.
Von Australia zu Austria ist es zumindest im Englischen nicht weit. Unsere Nachbarn schicken in diesem Jahr das Frauen-Duo Teya und Salena mit der Frage "Who the Hell is Edgar?" ins Rennen. Das lässt sich allerdings ziemlich schnell beantworten: Inspiriert ist der Song-Text vom amerikanischen Horror-Schriftsteller Edgar Allan Poe. Musikalisch ist das dem österreichischen Beitrag aber nicht anzuhören. Hier geht es weniger düster als mit High-Energy-Disko-Sound ziemlich hip zu. Ein bisschen erinnert das Ganze an die ESC-Beiträge der litauischen Band The Roop, die vor zwei beziehungsweise drei Jahren (als der Contest wegen Corona schlussendlich ins Wasser fiel) für Furore sorgten. Ja, es ist wahr: Österreich hat 2023 gute Final-Chancen.
Das sollte auch für Brunette mit "Future Lover" aus Armenien gelten. Bei den Proben in Liverpool hat sie zumindest unter Beweis gestellt, dass ihr eine Gabe gegeben ist, die nicht alle ESC-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer vorweisen können: Sie kann richtig gut singen. Die Art und Weise, wie sie dann ihren zunächst balladesk anmutenden Song mit einem Rap-Part und einer Tanz-Show in Einklang bringt, verdient ebenfalls Beachtung. Vielleicht könnte sie zu so etwas wie einem Geheimtipp in Liverpool avancieren.
Mit Polen an die Strandbar
Weniger geheim ist unterdessen, dass auch Gustaph aus Belgien bei vielen ESC-Fans ordentlich punkten dürfte. "It's all because of you" hört man ihn singen, während just in diesem Moment leicht bekleidete Männermodels auf der Videoleinwand hinter ihm zu tanzen beginnen. Wenig später wird er dann auf der Bühne auch noch die Gesellschaft eines zweibeinigen Kätzchens (oder Katers) genießen. Der Song ist allerdings durchaus kein Katzenjammer, sondern wäre mit seinem treibenden House-Sound ein verdienter Finalteilnehmer.
Wer jetzt noch nicht bei Laune ist, dürfte spätestens bei "Solo" von Blanka aus Polen in Stimmung geraten - sonst kann auch niemand mehr helfen. Mit Reggae-Rhythmen und einer Hook, die - leider - sofort ins Ohr geht, beamt das Lied sein Publikum gedanklich direkt in die nächste Strandbar. Loona dürfte etwas stinkig sein, dass ihr nach "Bailando" nicht "Solo" als Folgesong eingefallen ist. Ihre polnische Kollegin ist zwar definitiv nicht das größte Gesangstalent und auch ihre Bühnen-Show, in der ihr das Kleid abgerissen wird, um dann im Mini weiterzumachen, ist ziemlich altbacken. Es könnte dennoch fürs Finale reichen.
Deutlich schlechtere Chancen muss man dagegen wohl Theodor Andrei aus Rumänin mit "D.G.T. (Off And On)" attestieren. Buchmacher und Wettbüros prophezeien ihm ein Schicksal weit hinten im diesjährigen ESC-Tableau. Und das nicht ganz zu Unrecht: Optisch mutet Andrei zwar ein bisschen wie der junge Udo Lindenberg an, musikalisch geht ihm dann doch die Fähigkeit ab, das Publikum in (positive) Panik zu versetzen. Es darf deshalb mit Fug und Recht angenommen werden, dass er den Barhocker, die Gitarre und die Tänzerin, die am Schluss des Songs an seinem Hosenbein klebt, nach seinem Auftritt im Halbfinale wieder einpacken und nach Hause reisen darf.
Like an Animal?
Auch Victor Vernicos aus Griechenland sollte man nach allem, was einem der gesunde Menschenverstand sagt, im Finale nicht wiedersehen. Dass er auf der Bühne wie ein Flummi herumhüpft, macht seinen Song "What They Say" leider nicht besser. Und auch seine Stimme nicht. Vernicos kann sich aber trösten: Er ist ja noch jung. Tatsächlich ist er der jüngste Kandidat, den Griechenland je ins Rennen geschickt hat. Vielleicht kommt er ja nochmal wieder, wenn er etwas mehr geübt hat - er wäre schließlich nicht der erste ESC-Wiederholungstäter.
San Marino ist nicht nur das kleinste Land, das regelmäßig am ESC teilnimmt. Schon fast traditionell gehört es auch zu den Ländern mit eher suboptimalen Song-Ideen für den Wettbewerb. Das machte auch der jahrelange Einsatz von Ralph Siegel für San Marino nicht besser. 2023 haut der Mini-Staat mit der Gruppe Piqued Jacks und "Like an Animal" in die im Trend liegende Rock-Kerbe. Zum Tier wird dabei jedoch niemand. Der im 70er-Jahre-Sound gefangene Song ist zweifelsohne die schwächste Rock-Performance in diesem Jahr - und dürfte bereits mit dem Halbfinale in die Annalen des ESC eingehen.
Noch allerdings ist theoretisch alles möglich. Gelingt San Marino der Überraschungscoup? Wird Georgiens Sängerin Iru von der Windmaschine davongeblasen? Oder wird die albanische Familja Kelmendi, die mit Tochter Albina als Frontfrau im Tross auftritt, zur neuen Kelly Family? Das zweite ESC-Halbfinale wird es zeigen.
Quelle: ntv.de