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"Etwas bleibt immer hängen" Ferdinand von Schirach trotzt der Empörung

Jurist, Strafverteidiger, Erfolgsautor: Ferdinand von Schirach.

Jurist, Strafverteidiger, Erfolgsautor: Ferdinand von Schirach.

(Foto: TVNOW / Stephan Rabold)

Mit der Serie "Glauben" bei RTL+ absolviert Ferdinand von Schirach sein Debüt als alleiniger Drehbuchschreiber. Im Interview spricht er nicht nur über diese Herausforderung, sondern auch das Wesen von Empörung, die Funktion des Stammtisches und den größten bundesdeutschen Justizskandal aller Zeiten.

Aufhänger für die Serie "Glauben" sind Geschehnisse, die sich in den 90er-Jahren in Worms zugetragen haben ...

Ferdinand von Schirach: Die Serie beschäftigt sich tatsächlich nicht mit den Wormser Prozessen. Die Wormser Prozesse sind nur der Hintergrund und die Anregung.

Um was ging es bei diesen Prozessen?

Das ist bis heute der größte Justizskandal in der Bundesrepublik. Das Erschreckende war, dass es keine Korrektive mehr gab. Die Presse, die Justiz und die Menschen auf der Straße waren der festen Überzeugung, es habe ein vielfacher Kindesmissbrauch stattgefunden. Niemand schien mehr die Vorwürfe zurückhaltend und vorsichtig zu prüfen, jedermann war nur noch empört und wütend. Ich erinnere mich gut daran, wie ich von diesem Fall im "Spiegel" das erste Mal gelesen hatte.

Was haben Sie da gedacht?

Wenn man das von außen und aus der Ferne betrachtete, dann hatte man das Gefühl, dass irgendetwas gar nicht stimmen kann. Wie soll es möglich sein, dass so viele Menschen aus einer einzigen Kleinstadt sich an Kindern vergangen haben? Jede kriminalistische Erfahrung sprach dagegen. Es ist dann tatsächlich so gewesen, dass erst ganz langsam wieder Vernunft eingekehrt ist und man sich wieder darauf besonnen hat, was Strafprozesse sind und wie sie geführt werden müssen: ruhig, distanziert, unemotional. Solche Prozesse wie in Worms fanden in vielen Ländern statt, fast zur gleichen Zeit - und alle endeten immer mit Freisprüchen.

Was sprach dafür, die Wormser Prozesse als Hintergrund für eine Handlung in der Gegenwart zu verwenden?

Die Wormser Prozesse waren skandalös.

Die Wormser Prozesse waren skandalös.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Als die Wormser Prozesse spielten, war unsere Welt kleiner. Unsere Gesellschaft ist aggressiver geworden. Der Stammtisch, das vergessen wir immer, hatte eigentlich eine entlastende Funktion. Die Menschen sind dort abends hingegangen, haben ihr Bier getrunken, Salzbrezeln gegessen, sich aufgeregt, auf den Tisch gehauen - und sind dann ganz friedlich nach Hause gegangen, weil sie ihren Ärger los wurden. Das ist bei den Sozialen Medien ins Gegenteil verkehrt. Die Algorithmen, nach denen die Sozialen Medien programmiert sind, verstärken den Hass. Eine Serie über einen Prozess zu schreiben, der in den 90er Jahren spielt, erschien mir viel langweiliger, es wäre nur die Beschreibung eines historischen Ereignisses.

Gleichzeitig zu dieser Serie entsteht auch die Dokumentation "Empörung - Der Skandal von Worms", ...

… die nochmals zeigt, wie diese Mechanismen, die wir in den Wormser Prozessen beobachten konnten, in der heutigen Zeit funktionieren und wie viel stärker und gefährlicher sie werden. Am Schluss, wenn man das ganz zu Ende denkt, sind sie eben auch in der Lage, den demokratisch verfassten Rechtsstaat zu gefährden. Wir brauchen uns das heutzutage nicht einmal theoretisch vorstellen - wir haben den 6. Januar in Amerika erlebt und gesehen, was passieren kann: Der Mob stürmt das Capitol und bringt uns alle in Gefahr.

Sie haben schon zahlreiche Romane verfasst. "Glauben" ist dagegen das erste Format, für das Sie allein das Drehbuch geschrieben haben. Worin liegt für Sie der Unterschied?

Schreiben ist ein einsames Geschäft. Der Schreibende macht alles mit sich selbst aus, erst wenn ein Buch in der dritten oder vierten Fassung ist, bekommt es jemand zu sehen. Sehr spät bekommt es der Lektor. Ein Roman oder eine Kurzgeschichtensammlung zu schreiben dauert, bei mir zumindest, sehr viel länger als ein Drehbuch zu schreiben.

Was macht dann die Arbeit am Drehbuch aus?

"Glauben" spielt in der fiktiven Kleinstadt Ottern.

"Glauben" spielt in der fiktiven Kleinstadt Ottern.

(Foto: TVNOW / Stephan Rabold)

Ein Drehbuch lebt von Dialogen. Es ist herrlich: Sie schreiben einen Satz wie "Halbdunkles Zimmer im Hotel", worauf der Regisseur alles einrichten muss. Bei einem Roman kann so ein Satz nicht ausreichen. Auf der anderen Seite ist es auch nicht einfach, Dialoge über lange Strecken zu schreiben, das macht man im Roman nicht. Für mich ist beides interessant. Später lesen das Drehbuch viele Menschen, die andere Interessen haben. Bei diesen Drehbüchern wurde mir zum Beispiel oft gesagt, dass es viel zu teuer sei, die vielen Autos oder die vielen Ortswechsel. Das fand ich lustig, denn daran habe ich natürlich überhaupt nicht gedacht, während ich schreibe.

"Glauben" spielt in einer fiktiven Kleinstadt namens Ottern. Weshalb ist dies der richtige Ort für die Handlung der Serie?

Die Kleinstadt, die der Regisseur und die Produktion ausgewählt haben, ist deshalb so gut geeignet, weil alles auf engem Raum passiert und dieser Raum durch die Sozialen Medien enorm erweitert wird. Im Grunde genommen ist der enge Raum auch ein Abbild unserer Gesellschaft heute. Wir sind keine weitläufige Gesellschaft mehr, sondern relativ eng miteinander vernetzt.

Ein Drehbuch zu schreiben ist das eine, zu sehen, wie das dann umgesetzt wird, das andere ...

Das Außergewöhnliche ist, dass in dieser Serie, bis zu den kleinsten Nebendarstellern, jede Rolle wunderbar besetzt ist. Für mich ist es, genauso wie für jeden anderen Schriftsteller, die größte Freude, wenn man das, was man schreibt, so perfekt auf der Leinwand oder in diesem Fall im Fernsehen sehen kann. Und von den beiden Hauptdarstellern bin ich schlicht begeistert. Beide sind große Schauspieler, als Team sind sie perfekt.

Die beiden Hauptdarsteller sind Peter Kurth als Anwalt Schlesinger und Narges Rashidi als dessen zwielichtige Auftraggeberin Azra. Mit ihnen werden schließlich ausgerechnet zwei Charaktere zur "Stimme der Vernunft", denen man das vielleicht zunächst nicht zutrauen würde …

Anwalt Schlesinger (Peter Kurth) und dessen Auftraggeberin Azra (Narges Rashidi) sind die Hauptfiguren in "Glauben".

Anwalt Schlesinger (Peter Kurth) und dessen Auftraggeberin Azra (Narges Rashidi) sind die Hauptfiguren in "Glauben".

(Foto: RTL / MOOVIE / Stephan Rabold)

Es geht nicht darum, welchen Beruf ein Mensch hat oder welche gesellschaftliche Stellung. Es kommt nur darauf an, wie er handelt. Ein Spielsüchtiger und eine Geldeintreiberin können vernünftige Menschen sein. Der Witz bei beiden ist, dass sie, aus ganz unterschiedlichen Gründen, keine Vorurteile haben. Sie nehmen die Menschen so, wie sie sind.

Schlesinger ist ein Typ vom alten Schlag, der sich als "Nicht-Digital-Native" im Fall von Ottern zurechtfinden muss. Wie ist Ihnen dieser Brückenschlag gelungen?

Mir hat geholfen, dass ich auch nicht gerade ein Digital-Native bin. Schlesinger sehnt sich nach dem 20. Jahrhundert, er findet Telefonzellen, Kassetten und alte Autos angenehm. Die Zeit wird immer schneller und vieles wird angenehmer, aber Schnelligkeit ist nun einmal kein Freund der Vernunft. Schlesinger lebt von dem, was die Engländer "common sense" nennen, obwohl - oder gerade weil - er so zerstört ist und mit dem Leben nicht gut zurechtkommt. Die Tatsache, dass er nicht mit dem Handy umgehen kann, heißt nicht, dass er nicht klug ist.

Sondern?

Er betrachtet das Leben anders, er sieht es mit spöttischer Distanz und tritt einen Schritt zurück - auch von sich selbst. Und Azra ist klug, weil sie alles schon gesehen hat. Ich hätte die beiden gerne an meiner Seite, wenn ich in Schwierigkeiten komme.

Schlesinger fällt die ebenso unverzichtbare wie undankbare Rolle des Strafverteidigers zu. Wieso ist diese oft so schwer zu ertragen?

Wir wollen einfache Lösungen, aber ein Strafverteidiger macht alles komplizierter. Wenn jeder empört ist, wird der gehasst, der sagt, dass es vielleicht doch etwas anders gewesen sein könnte. Aber anders kann der Rechtsstaat nicht funktionieren. In den Wormser Prozessen wurden zum Beispiel Taten angeklagt, die schlicht nicht stattgefunden haben konnten. Beispielsweise wurde die Vergewaltigung eines Kindes angeklagt, obwohl das Kind noch gar nicht geboren war. Die Staatsanwaltschaft hat das in der Anklage geschrieben, die Richter haben diese Anklage zugelassen. Erst die Verteidiger wiesen darauf hin, dass das nicht sein kann.

Azra hingegen wurde als rein fiktive Figur in die von wahren Begebenheiten inspirierte Geschichte eingewoben. Was sprach dafür?

Geschichten brauchen oft ein überzeichnetes Element. In Azra sammelt sich ein bisschen die Vorstellung von dem Genre, aber gleichzeitig macht sich Azra selbst immer über dieses Genre lustig. Sie ist die interessanteste Figur, auf der einen Seite fast wie eine Comic-Heldin, auf der anderen Seite verletzlich. Sie trägt ein Geheimnis und der Film entschlüsselt es. Und sie ist lebensnäher und klüger als Schlesinger.

Die von Katharina Marie Schubert dargestellte Kinderschutzbeauftragte Ina Reuth wiederum ist keine "Heldin" …

Ina Reuth orientiert sich an einer echten Figur, die damals im Mittelpunkt der Prozesse stand. Diese Frau wollte das Gute, sie wollte die Kinder beschützen und die von ihr "ermittelten" Täter bestrafen. Sie war, wenn man es höflich sagen will, aber von Ehrgeiz, Hass, Empörung und Selbstüberschätzung verblendet. Gut gemeint reicht eben nicht, besonders dann nicht, wenn man mit dem Schicksal von Menschen spielt. Auch ein Richter kennt Begriffe wie "das Böse" oder "das Gute" im Prozess nicht. Er verurteilt zu einer Strafe, aber nicht zu Hölle und Verdammnis.

Den Sozialen Medien fällt eine gewichtige Rolle in "Glauben" zu. Welche Chancen und Gefahren erkennen Sie in ihnen?

Es ist etwas Schönes und Glückliches, wenn sich Menschen miteinander verbinden, wenn die Großmutter Kontakt zu ihren Enkeln in Australien hat, daran gibt es überhaupt nichts auszusetzen. Das Gefährliche ist, dass diese Geschäftsmodelle, die auf Ausforschung und Manipulation gegründet sind, eine Handvoll Firmen reicher als ganze Staaten gemacht haben. Noch nie in der Geschichte der Menschheit gab es eine solche Machtkonzentration. Das Problem ist, die Programmierung dieser sozialen Netzwerke. Ihre Algorithmen fördern den Hass, die Wut und Empörung, Menschen werden durch sie zerstört und die Staaten bieten ihnen keinen Einhalt. Das darf auf gar keinen Fall so weitergehen.

Weshalb lassen sich Menschen zu einem vorschnellen Urteil hinreißen?

Weil wir immer die einfachen Antworten bevorzugen. Aber es ist nicht nur das vorschnelle Urteil, das Schlimmere ist, dass dieses Urteil immer weiter fortwirkt. Denken Sie an den Fall Kachelmann …

Moderator Jörg Kachelmann, der vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen wurde ...

Ein unbescholtener Moderator hat offenbar, jedenfalls wenn man den Berichten der Zeitungen glauben darf, über viele Jahre hinweg zu einer Fülle von Frauen sexuelle Beziehungen. Das empfinden die meisten Menschen als unmoralisch. Und weil dieser Mann so unmoralisch gelebt hat, muss der Vorwurf natürlich stimmen, den eine der Frauen erhob, nämlich dass er sie vergewaltigt habe. Dass das ein Trugschluss ist, sollte eigentlich jedem vernünftigen Menschen klar sein. Aber selbst in dem Gerichtsverfahren war es furchtbar schwierig für ihn, obwohl die Frau wohl an vielen nachweisbaren Stellen gelogen hatte. Nach einem elend langen Prozess wurde er endlich freigesprochen - aber das Ergebnis ist, dass die Menschen immer noch glauben, irgendetwas wird da schon dran gewesen sein. Plutarch sagte schon vor 2000 Jahren: "Semper aliquid haeret" - "etwas bleibt immer hängen". Und er hatte leider recht damit.

Die Serie "Ferdinand von Schirach - Glauben" ist auf RTL+ abrufbar. Ab 1. Dezember wird sie zudem auf Vox ausgestrahlt.

Quelle: ntv.de, vpr/RTL

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