

Tim Wiese hatte vor dem Europa-League-Duell zwischen Werder Bremen und dem FC Valencia Böses geschwant: "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht unter die Räder kommen. Wenn die so spielen wie gegen uns, als sie nur zu zehnt waren, dann wird es gefährlich." Wieses Sorge war verständlich. Schließlich steht er in Bremen im Tor und will sich dort bis zur WM noch für den Stammplatz im DFB-Dress empfehlen.
Eine herbe Packung, wie sie Wiese beim 1:1 im Hinspiel gegen auch in Unterzahl anstürmende Valencianer bravourös verhindert hatte, ist da nicht gerade förderlich.
Also mahnte Wiese seine Teamkollegen vor dem Rückspiel im Weserstadion, bei der von ihnen bevorzugt praktizierten Offensivverteidigung ausnahmsweise nicht das Verteidigen zu vergessen.
Also warnte er vor Valencias Angriff mit den spielstarken und technisch brillanten Davids, den Herren Villa ...
... und Silva.
Also sprang Bremens Vereinsboss Klaus Allofs seinem Torwart bei und forderte: "Wir müssen hinten gut stehen und keinen Treffer zulassen."
Doch alles Warnen und Mahnen und Fordern und Wachrütteln war vergebens. Das Spiel im Weserstadion begann mit einer eiskalten Dusche für die Platzherren und damit das Gros der 25.000 Fans.
Nach einem langen Pass aus Valencias Hintermannschaft wehrte Bremens Hintermannschaft in Person von Naldo den Ball zu kurz ab. Der schnell aufgerückte David Silva setzte seinen spanischen Nationalmannschaftskollegen David Villa glänzend in Szene.
So glänzend, dass der EM-Torschützenkönig mutterseelenallein vor Bremens Schlussmann Tim Wiese keine Probleme hatte, aus halblinker Position zum 1:0 für die Gäste zu treffen.
Gerade mal 117 Sekunden waren zu diesem Zeitpunkt gespielt und Klaus Allofs spielte vermutlich schon mit dem Gedanken, sich umgehend ein Taxi zu rufen – und seinen bemitleidenswerten Coach Thomas Schaaf gleich mitzunehmen.
Mit dem frühen Gegentor war nicht nur der zwar kluge, für Werder Bremen aber schier irrwitzig anmutende Spielplan über den Haufen geworfen, heute mal kein Tor zu kassieren.
Durch den Treffer von David Villa war auch das Polster aus dem 1:1 im Hinspiel schon aufgebraucht.
Immerhin: Anders als der VfB Stuttgart gegen den FC Barcelona verfielen die Bremer nach dem Gegentreffer nicht in eine Schockstarre.
Zwar bot sich Villa gegen die gewohnt unsortierte Werder-Abwehr nur fünf Minuten nach seinem ersten Streich bereits die große Chance zum zweiten Tor, das Wiese mit einer schönen Parade und schönem Gruß an Jogi Löw verhindern konnte.
Kurz darauf beschloss aber auch Bremen, ein wenig mitzuspielen.
Nach feinem Pass von Mesut Özil hatte Claudio Pizarro in der 10. Minute die große Möglichkeit zum Ausgleich. Der Peruaner schob den Ball jedoch frei vor Valencias Schlussmann an der falschen Seite des Pfostens vorbei, das heißt ins Aus statt ins Tor.
Doch hatte sich Werder zuvor schon vom Gegentor nicht geschockt gezeigt, zeigten sich die Grünweißen auch vom nicht erzielten Ausgleich keineswegs beeindruckt. Vielmehr schienen die Bremer nach der ausgelassenen Chance stärker zu werden. Mussten sie ja auch, sie brauchten schließlich mindestens ein Tor.
Davon wiederum ließ sich Valencias wendige Angriffsreihe keineswegs beeindrucken und nutzte die Schwächen in der nur größenmäßig überlegenen Bremer Abwehr durch seine ebenso geradlinige wie effiziente Spielweise weiter eiskalt aus.
In der 15. Minute war es erneut Silva, der den Weg zum 2:0 der Spanier mit einem sehenswerten Pass ebnete. Diesmal vollstreckte Juan Mata.
Seine Jubelpose hatte, nunja, Stil.
Werder-Coach Thomas Schaaf, dessen Team nun schon mindestens drei Tore zum Weiterkommen benötigte, reagierte und sorgte damit zumindest für einen Aha-Effekt bei den Fans. Die hatten bis zur Auswechslung von Tim Borowski in der 22. Minute gar nicht gemerkt, dass der frühere Nationalspieler auf dem Platz gestanden hatte.
Für Borowski kam Hugo Almeida, Portugiese und Stürmer von Beruf. Und weil man als Stürmer Tore zu schießen hat, schoss Almeida prompt ein Tor.
Nach starkem Pass von Pizarro musste der Portugiese in der 26. Minute aus kurzer Distanz nur noch einschieben und tat das erfolgreich.
Borowski hatte es zu diesem Zeitpunkt noch nicht mal unter die Dusche geschafft.
Almeidas Treffer machte die ohnehin immer aktiveren Bremer noch aktiver, der Pokalsieger drängte nun vehement auf den Ausgleich.
Aaron Hunt (35.) ...
... und Almeida (36.) vergaben jeweils aus guten Positionen die besten zahlreicher guter Chancen.
Die Strafe folgte noch vor der Pause, hier sehen sie die freudige Reaktion von Valencias Coach Unai Emery.
In der 45. Minute nutzte erneut Villa eine erneute Unachtsamkeit in der Bremer Abwehr und traf mit seinem zweiten Tor zum 3:1 für die Gäste. Die Vorlage hatte erneut David Silva gegeben.
Ob der desolaten Abwehrleistung und der Tatsache, dass kein Taxi verfügbar war, brach Tim Wiese in der Halbzeitpause in der Kabine zusammen und Klaus Allofs vor den Kameras des Bezahlsenders "Sky" in Tränen aus.
Er presste schluchzend heraus: "So kann man nicht verteidigen, das ist viel zu naiv." Und meinte damit unter Anderen Per Mertesacker, der im Gegensatz zu Wiese in der deutschen Nationalmannschaft gesetzt ist. Allerdings verkannte Allofs mit seiner Analyse die Lage im Weserstadion vollkommen.
Natürlich führte Valencia mit 3:1, ...
... natürlich hatten seine Werderaner verteidigt wie eine Schülermannschaft …
… und natürlich brauchten sie im zweiten Durchgang mindestens drei Tore, um doch noch weiterzukommen.
Doch damit hatten die Bremer keineswegs ihren Europa-League-K.o. besiegelt, sondern lediglich die Grundlage für ein erneutes "Wunder von der Weser" geschaffen. Auf dem Weg dahin wies Werder zwölf Minuten nach Wiederanpfiff zunächst nach, ...
... dass man für ein Wunder nicht wunderbar spielen muss. Nach einem vermeintlichen Foul von Valencias Jordi Alba an Bremens drei Köpfe kleineren Marko Marin entschied der Schiedsrichter auf Strafstoß.
Zur Vollstreckung trat Kapitän Torsten Frings an, der schon im Hinspiel per Strafstoß getroffen hatte. Auch diesmal verwandelte der "Lutscher", frei nach dem Motto: "Einfach druff!"
Statt überlegt platziert ins Eck zimmerte Frings den Ball stumpf und wuchtig in die Tormitte, fast so als ob dort Joachim Löw stehen würde. Valencias Keeper Cesar Sanchez hatte das zwar geahnt, konnte den nicht unhaltbaren Ball aber dennoch nicht halten.
Die Werder-Fans und Coach Thomas Schaaf freute der erneute Anschluss auch deshalb, weil Valencia zwei Minuten zuvor bereits mit dem Zeitspiel begonnen hatte. Joaquin ließ sich bei seiner Auswechslung in der 54. Minute (!!!) derart viel Zeit, dass ihn der Referee noch mit einer gelben Karte bedachte.
Zurück zum Spiel: In selbigem gelang den Bremern kurz nach dem Anschlusstreffer von Frings sogar der Ausgleich. Nach einem feinen Freistoßtrick von Mesut Özil und Marko Marin grätschte David Silva in der 62. Minute den Schuss von Marin ins eigene Tor.
Den Torjubel überließ der nunmehr an vier Toren direkt beteiligte Spanier aber dem Bremer.
Während die freudig erregten Bremer Fans zu überlegen begannen, wohin sie sich das Ergebnis des neuerlichen Werder-Wunders tätowieren lassen könnten und Klaus Allofs hektisch probierte, das Taxi wieder abzustellen, …
… sorgte praktisch im Gegenzug erneut Villa ...
... mit seinem dritten Treffer schon wieder für die Führung der Spanier. Zählen hätte das Tor nicht dürfen, Villa stand im Abseits. Es zählte aber.
Allofs, der gerade erst aufgelegt hatte, zertrat frustriert sein Handy. Die Werder-Fans waren einfach nur frustriert, Thomas Schaaf auch.
Alle zusammen sahen sie, wie Werder fortan kopflos anrannte ...
... und Valencia mit Köpfchen konterte, dabei aber die Kaltschnäuzigkeit der ersten vier Treffer vermissen ließ.
Das Spiel war dennoch entschieden.
Als Marko Marin in der 79. Minute einen Eckball über Freund und Feind hinweg ins Aus schlug, fielen selbst die bereits tätowierten Werder-Fans vom Glauben an ein neuerliches Wunder ab.
Und dann traf Claudio Pizarro plötzlich per Kopf aus kurzer Distanz, in der 84. Minute.
4:4, noch einmal keimte neue Hoffnung auf. Das halbe Stadion stand wie Klaus Allofs kurz vor einem Herzkasper, die andere Hälfte kämpfte mit Schnappatmung.
Doch die Hoffnung erfüllte sich gegen engagiert kämpfende ...
... und mit fortschreitender Spieldauer auch immer engagierter schauspielernde Spanier ...
... nicht mehr.
Trotz generöser fünf Minuten Nachspielzeit und einigen hektischen Situationen vor dem Tor der Spanier...
... reichte es nicht mehr zu einem weiteren Treffer für Bremen.
Nach dem 1:1 im Hinspiel ...
... und dem 4:4 im Rückspiel, bei dem Wiese im Tor der beste Wederaner und die, Entschuldigung, ärmste Sau zugleich war, blieb Bremen gegen Valencia ungeschlagen und schied dennoch aus.
Werder-Coach Thomas Schaaf, der sonst in guten wie in schlechten Zeiten Rede und Antwort steht, ...
... verweigerte dem Bezahlfernsehen diesmal nach Spielende ein Interview. Später sagte er: "Das Ausscheiden war unnötig."
Treffender kann man die 4:4-Niederlage gegen Valencia nicht zusammenfassen.
Genauso desaströs wie die Werder-Abwehr präsentierte sich die Defensive des Hamburger SV im Achtelfinal-Rückspiel beim RSC Anderlecht.
Und auch in Belgien war der Spielverlauf nichts für schwache Nerven.
Nach eher gemächlichen 42 Auftaktminuten, ...
... in denen sich beide Teams vorsichtig näherkamen, ...
... brachte Verteidiger Jerome Boateng richtig Schwung in die Partie.
Mit einem Philipp-Lahm-Gedächtnis-Tor, also einem Schuss vom linken Strafraumeck in den rechten oberen Torwinkel, schoss Boateng seinen HSV im laufenden Spiel mit 1:0 und im Zwischenklassement mit 4:1 in Führung. Das Hinspiel hatte der HSV ja 3:1 gewonnen.
Doch bevor sich der HSV seiner Sache sicher sein konnte, hatte Romelu Lukaku schon den Ausgleich für Anderlecht erzielt.
Der 16-Jährige gilt als Wunderknabe im Sturm, sein Tor gegen den HSV hätte aber auch Artur Wichniarek gemacht. Lukaku kam im Fünfmeterraum des HSV frei zum Kopfball, Rost war chancenlos.
Nachdem Boateng erst dafür gesorgt hatte, dass das Spiel nicht mit 0:0 in die Pause ging, stellte er in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit mit diesem ungestümen Einsteigen ...
... gegen Matias Suarez gleich noch sicher, dass es auch nicht mit 1:1 in die Kabinen ging. Das Foul im Strafraum zog richtigerweise einen Elfmeter nach sich.
Den Strafstoß verwandelte der Gefoulte selbst.
Zu Beginn der zweiten Halbzeit machte der HSV nahtlos dort weiter, wo man nach Boatengs Führungstor aufgehört hatte: Man spielte nicht mit.
Der ehemalige Bremer Bundesliga-Profi Jelle van Damme und Lukaku hatten das 3:1 auf dem Fuß, scheiterten aber an Hamburgs Keeper Rost.
Wenig später fiel dennoch ein Tor, allerdings auf der Gegenseite.
Nach feinem Pass von Mladen Petric vollendete Marcell Jansen per Direktabnahme zum Ausgleich.
Torwart Silvio Proto konnte dem Schuss nur hinterhersehen.
Als der Argentinier Lucas Biglia (59.) fast umgehend wieder die Führung für Anderlecht erzielte, reagierte der nicht mehr unumstrittene HSV-Coach Bruno Labbadia mit einer taktischen Meisterleistung.
Für Verteidiger Jerome Boateng kam in der 63. Minute Mittelfeldspieler Eljero Elia, Offensivverteidigung war das Zauberwort. Sie klappte genauso gut wie beim Nordrivalen Werder Bremen.
Das heißt: In der 66. Minute erzielte Mbark Boussoufa das 4:2 für Anderlecht.
Doch zum Glück hatten die Hamburger Offensivkraft Petric.
Der gelang in der 75. Minute in der ersten HSV-Verteidigungsreihe, was Sturmkollege Ruud van Nistelrooy zuvor verpasst hatte.
Petric traf, das 3:4 war der Endstand.
Der HSV hatte verloren, aber trotzdem das Viertelfinale erreicht, ganz so wie zuvor der FC Bayern in der Champions League. Merke: Vom Rekordmeister lernen heißt Weiterkommen lernen. Was das unsouveräne Auftreten des HSV für Labbadia bedeutet, wird sich zeigen.
In Wolfsburg ging es beim Gastspiel des russischen Meisters Rubin Kasan nicht ganz so turbulent und torreich zu wie in Bremen und Anderlecht. Das lag aber schlicht daran, dass beide Teams nicht nur nominell mit Abwehrspielern angetreten waren, ...
... sondern auch tatsächlich das eigene Tor verteidigten.
Das gelang Kasan im ersten Durchgang etwas besser als Wolfsburg. Resultat war die 1:0-Pausenführung durch Alexander Kasajew. Er traf in der 21. Minute.
In der zweiten Halbzeit durfte in Wolfsburgs Angriff Obafemi Martins mitmischen, der sich direkt mitten ins Getümmel warf.
Dort fiel ihm in der 58. Minute der Ball auf den Kopf, ...
... von dort aus sprang er ins Kasan-Tor. 1:1, die Zeichen standen auf Verlängerung.
Weil Wolfsburg erst ein klarer Elfmeter verweigert und Stürmer Edin Dzeko in der 93. Minute dann auch noch ein reguläres Tor aberkannt wurde, gab es tatsächlich Nachschlag.
In der Verlängerung flog in der 109. Minute zunächst Kasans Cesar Navas mit Gelb-Rot vom Platz.
Zehn Minuten später flogen dann alle Wolfsburger jubelnd übereinander.
Ganz unten lag Christian Gentner, der zuvor nach schöner Vorarbeit von Martins ...
... das 2:1 erzielt und damit die Lotterie vom Elfmeterpunkt abgewendet hatte. Nun geht es für die Wolfeburger im ersten Europapokal-Viertelfinale der Vereinsgeschichte gegen den FC Fulham.
Tim Wiese und Werder Bremen müssem dann leider zuschauen. (Text: Christoph Wolf)