Panorama

Eltern bangen, welche Kinder noch leben Reisebus fuhr nicht zu schnell

Ein technisches Problem, ein Gesundheitsproblem oder menschliches Versagen - das sind die möglichen Ursachen des Busunglücks in der Schweiz mit 28 Toten. Derzeit werden auch Videoaufnahmen untersucht. Die Eltern der Kinder erreichen derweil die Schweiz. Einige wissen nicht, ob ihre Kinder noch leben. Unter den Verletzten ist ein Deutscher.

Das tragische Unglück eines belgischen Reisebusses in der Schweiz könnte nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft verschiedene Ursachen haben. Es komme ein technischer Defekt infrage, eine plötzlich auftretende Krankheit des Fahrers oder menschliches Versagen. "Der Reisebus war neu und gut instand gehalten, und der Fahrer war allen Erkenntnissen nach ausgeruht", sagte Oberstaatsanwalt Olivier Elsig bei einer Pressekonferenz in Sitten. Die Leiche des Fahrers werde nun untersucht. Der Bus fuhr allerdings nicht mit unzulässiger Geschwindigkeit, fügte Elsig an.

Christian Varone, der Polizeichef des Kanton Wallis, sagte die Untersuchungen der Videoaufnahmen liefen noch. "Es gibt keinen Erwachsenen an Bord des Busses, der den Unfall überlebt hätte, den wir jetzt als Zeugen befragen könnten", so Varone. Er sprach von einer "apokalyptischen Tragödie".

Bei dem Unfall waren in der vergangenen Nacht 22 Kinder, alle etwa 12 Jahre alt, vier Betreuer und die beiden Busfahrer ums Leben gekommen. Es handelte sich um 7 Niederländer und 21 Belgier. Der Bus mit insgesamt 52 Insassen war am Dienstagabend in einer Tunnelröhre der A9 bei Siders im Wallis gegen eine Wand in eine Nothaltebucht gekracht. In dem Reisebus saßen zwei Schulklassen aus Belgien, die auf der Heimfahrt aus der Skiregion Val d'Anniviers waren. Der Bus war zum Unfallzeitpunkt erst 20 Minuten unterwegs. Nach belgischen Angaben gehörten zwei weitere Busse zu dem Konvoi. Diese seien aber nicht in den Unfall verwickelt gewesen und hätten ihre Fahrt fortgesetzt.

24 Kinder erlitten laut Polizei Verletzungen. Drei von ihnen seien in einem besonders schlechten Zustand, sagte ein Mediziner bei der Pressekonferenz. Unter den Überlebenden ist mindestens ein deutscher Jugendlicher, sagte Varone. Das Auswärtige Amt bestätigte dies. Von den 24 Verletzten wurden 22 inzwischen identifiziert, darunter sind 17 Belgier, 3 Niederländer, ein Pole und ein Deutscher. Viele der verletzten Kinder waren "noch nicht transportfähig", hieß es.

"Ein sehr trauriger Tag für ganz Belgien"

Belgiens König Albert II. zeigte sich "zutiefst schockiert". "Die Gedanken des Königs sind bei den Opfern und deren Familien", sagte ein Sprecher des Palasts in Brüssel. Der König sprach auf einem Militärflugplatz bei Brüssel mit Angehörigen der Opfer. Mit einem Airbus flogen 116 Angehörige in die Schweiz. Während einige von ihnen bereits einen erlösenden Anruf von ihrem Kind bekommen hatten, war für andere immer noch unklar, ob ihr Sohn oder ihre Tochter eines der schwersten Busunglücke in der Schweizer Geschichte überlebt hatte. Der belgische Regierungschef Elio Di Rupo kündigte einen nationalen Tag der Trauer an. "Das ist ein sehr trauriger Tag für ganz Belgien", erklärte er.

Anschnallpflicht
  • In Deutschland ist es seit 1999 vorgeschrieben, in Reisebussen einen Sicherheitsgurt anzulegen.
  • Voraussetzung dafür ist, dass ein Gurt vorhanden ist. Ebenfalls seit 1999 müssen Reisebusse mit Sicherheitsgurten auf allen Sitzplätzen ausgestattet sein.
  • EU-weit gilt seit dem 9. Mai 2006 die Anschnallpflicht im Reisebus. Sie gilt generell für alle Fahrzeuge, sofern sie entsprechend ausgestattet sind.
  • In der Schweiz wurde die Pflicht zum Gurt ebenfalls 2006 zum Gesetz.

Offenbar kam der Fahrer des Reisebusses in einem Tunnel der A9 nach rechts ab, streifte die Bordsteinkante und rammte frontal eine Betonmauer. In der Röhre gab es keinen Gegenverkehr. Der Bus stieß laut Elsig auch nicht mit einem weiteren Auto zusammen. Zudem sei die Straße nicht beschädigt gewesen, noch hätten sich Flüssigkeiten auf der Fahrbahn befunden. Der ADAC hatte den Schweizer Tunnel 2005 getestet und für gut befunden, sagte Sprecher Andreas Hölzel. "Es ist ein moderner, breiter, gut beleuchteter Tunnel - insgesamt waren unsere Tester sehr zufrieden".

Sitze aus der Verankerung gerissen

Der Aufprall war von extremer Wucht, vom Reisebus war anschließend nur noch ein zerfetztes Wrack übrig. "Die Front des Busses war total eingedrückt", berichtete eine Korrespondentin des Schweizer Fernsehens. Auf der Fahrbahn lagen Kleider und Gepäckstücke. Die Kinder im Bus seien angeschnallt gewesen, aber durch den Aufprall wohl losgerissen worden, sagte Oberstaatsanwalt Elsig. Die Kollision sei so stark gewesen, dass die Sitze aus ihrer Verankerung gerissen wurden und die Insassen zerquetschten. "Aber angeschnallt oder nicht, das hätte jetzt nicht viel geändert für die Kinder, die bei dem Unfall ums Leben gekommen sind", sagte Elsig. Experten hatten zuvor vermutet, dass angesichts der hohen Opferzahl viele Kinder nicht angeschnallt gewesen sein könnten.

Das völlig zerstörte Buswrack wurde inzwischen abtransportiert und sollte genau untersucht werden. Der Bus, der 2002 erstmals zugelassen wurde, gehörte der Busgesellschaft Toptours mit Sitz in Aarschot, in der belgischen Provinz Flämisch-Brabant. Die Gesellschaft habe einen "exzellenten" Ruf, sagte der belgische Staatssekretär für Verkehr, Melchior Wathelet. Der Bus hatte erst vor fünf Monaten einen technischen Test bestanden.

100 Sanitäter, 60 Feuerwehrleute, 15 Ärzte, 3 Psychologen waren stundenlang im Einsatz. Auch Hubschrauber und Tieflader wurden genutzt. Rettungskräfte hätten die Seitenteile des zerquetschten Fahrzeugs aufschneiden müssen, damit die Opfer herausgeholt werden konnten, hieß es. Die Rettungskräfte berichteten von "schockierenden Szenen". Die Polizei sprach von einer "nie dagewesenen Tragödie". Die Bergung der Verletzten und Toten habe sehr lange gedauert, sagte der Leiter der Rettungszentrale, Jean-Pierre Dellars. Bis zum Eintreffen der Rettungsdienste dauerte es nach offiziellen Angaben 20 Minuten, bis zum Bergen des Verletzten weitere zwei Stunden. Der Tunnel wurde nach einer vorübergehenden Vollsperrung am Vormittag wieder für den Verkehr freigegeben.

Trauer in den belgischen Schulen

Vor den Schulen der Kinder in Heverlee in der Nähe von Brüssel und in Lommel an der niederländischen Grenze versammelten sich am Morgen Mitschüler und Angehörige. Weinend lagen sich Menschen in den Armen. "Uns fehlen die Worte. Wir empfinden nur tiefe Trauer", sagte der Geistliche Dik De Gendt. Noch am Montag hatten sich die Schüler aus Lommel per Online-Reisetagebuch aus ihren "Superferien" gemeldet. "Jawohl, liebe Daheimgebliebene, wir sind schon fast am Ende. Morgen ist schon der letzte Tag ..."

Für jedes Opfer des Unfalls sollen mindestens 220.000 Euro an Entschädigung fällig werden, berichtete die Nachrichtenagentur Belga. Die Kosten übernehme der Versicherer des in den Unfall verwickelten Busunternehmens, die belgische Gesellschaft AG Insurance. Die Agentur berief sich auf ein Mitglied des belgischen Versicherungsdachverbandes Assuralia. Ob die Summe nur im Todesfall gezahlt werden soll, blieb in der Meldung unklar.

Auch die Bundespräsidentin der Schweiz, Eveline Widmer-Schlumpf, sprach den Opfern ihr Mitgefühl aus: "Ich kann als Mutter von drei Kindern sehr gut begreifen, wie tief der Schmerz sein muss, wenn man ein Kind auf diese Art verliert", sagte sie. Die Schweiz werde alles tun, um die Verletzten und die Angehörigen nach Kräften zu unterstützen. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso kondolierten. "Es gibt keine entsetzlichere Dramen", sagte Sarkozy. Das schweizerische und das Europaparlament gedachten der Toten mit einer Schweigeminute.

Quelle: ntv.de, mli/AFP/dpa/rts

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen