"Ein inneres Kribbeln, etwas Aufregendes" Ein Mann entdeckt die Frau in sich
21.03.2014, 11:37 Uhr
Seidel findet, dass Frauen die besseren Menschen sind.
(Foto: picture alliance / dpa)
Christian Seidel ist ein Kerl von Mann. Doch eines Tages beginnt der erfolgreiche Medienmanager ein gewagtes Experiment - mit Röcken, Büstenhaltern und Sling-Pumps. Dabei findet er Erstaunliches heraus.
"Wann ist ein Mann ein Mann?" - das war keine Frage, die Christian Seidel bisher besonders beschäftigte. Der hochgewachsene Medienmanager, wirtschaftlich erfolgreich, verheiratet und mit einem ansehnlichen Testosteron-Wert ausgestattet, hat alles zu bieten, was gemeinhin als männlich gilt. Deshalb hätte er sich auch nicht träumen lassen, wie schnell seine Männlichkeit infrage gestellt werden könnte.
Doch Seidel hat sich mit seinem Experiment, mehr als ein Jahr lang als Frau zu leben, auch besonders weit in unmännliche Regionen vorgewagt. Dabei begann alles ganz harmlos damit, dass Seidel mit seinen langen Unterhosen nicht klarkam. Ohne fror er draußen, mit schwitzte er drinnen. Auf der Suche nach Alternativen verschlug es den Mittfünfziger in die Damenabteilung des Kaufhauses. Und damit nahm die Veränderung ihren Lauf.
"Ich habe diesen Widerstand gespürt, dass das peinlich ist für Männer. Als ich die Damenstrümpfe dann gekauft hatte, habe ich mich gefühlt, als ob ich etwas getan hätte, was die Eltern immer verboten hatten", beschreibt Seidel diesen Moment. Was Seidel nicht vorhersehen konnte: Als er die Nylons erst einmal anhat, wirken sie in ihn hinein und rufen etwas Weibliches in ihm wach.
70.000 Männer auf der Suche
Seidel folgt diesem Impuls und kauft sich Frauenkleider. Stunden verbringt er in einem Spezialgeschäft, um sich zunächst kurze Röcke, später Brüste, Büstenhalter, Sling-Pumps in Größe 45 und eine blonde Perücke auszusuchen. Der Laden war nicht schwer zu finden, und Seidel ist hier auch keineswegs der einzige Kunde. Über 70.000 Männer werden mit ihren Unterbrustweiten und Schuhgrößen in der Geschäftskartei geführt - allein im Einzugsbereich München und Nürnberg wohlgemerkt. Und längst nicht alle sind Transsexuelle oder Transvestiten.
Überrascht stellt Seidel fest, dass in dem Geschäft Ärzte, Lehrer, Bäcker und Leute aus dem höheren Management einkaufen. "Da ist etwas in der Mitte der Gesellschaft angekommen, was ans Tageslicht muss, nämlich der tiefsitzende Identitätskonflikt des heutigen Mannes und seine Suche nach einer neuen Identifikation und mehr Freiheit." Doch auch dem sonst so toleranten Seidel fällt es schwer, diesen Männern nicht genau jene Etiketten zu verpassen, die er gerade für sich ablegen will. Ziemlich deutlich empfindet Seidel, was es heißt, für schwul oder was auch immer gehalten zu werden, nur weil er als Mann einmal etwas macht, "was außerhalb der Reihe ist".
Dabei spricht auch die Verkäuferin ganz offen darüber, was Männer in ihrem Laden suchen, abgesehen von den bereits erwähnten Accessoires. Es geht um das entspannende Gefühl, von dem Männer in Frauenkleidern schwärmen und das offenbar stark im Gegensatz zum männlichen Alltag steht. Seidel beschreibt, dass er sich in seinem Mannsein immer mehr eingeengt gefühlt habe. Die alte Rolle, das Klischee des Ernährers und Beschützers habe immer weniger auf ihn gepasst. "Aber jeder Versuch, etwas anderes auszuprobieren oder freier zu leben, wird sofort abgestempelt."
"Bist du noch ein Mann?"

Über seine Zeit als Frau hat Seidel ein Buch geschrieben, es ist bei Heyne erschienen und kostet 12,99 Euro.
Seidel betritt nach diesen ersten Erlebnissen umso stürmischer das "riesige Land der Frauen". Er geht immer häufiger im Alltag als Frau aus dem Haus, er schminkt sich und lackiert sich die Nägel, er lernt auf hohen Schuhen zu laufen, er gründet einen Freundinnenkreis. Er fühlt sich verletzlicher, emotionaler. Doch mit all diesen Dingen löst er in seinem Umfeld heftige Irritationen aus, die er zunächst gar nicht begreifen kann. "Die Reaktionen der Menschen haben mich zutiefst verletzt, durcheinandergebracht und auch an den Menschen zweifeln lassen." Immer öfter wird er gefragt, ob er denn noch ein Mann sei. Bald sprechen ihn immer mehr Menschen mit Frau Seidel oder Christiane an. "Da war auf der einen Seite so ein inneres Kribbeln, etwas Aufregendes, aber gleichzeitig war mir das unheimlich." In schlaflosen Nächten beginnt Seidel über Geschlechterrollen nachzudenken, darüber, wie es wäre, wenn sich Menschen als Menschen ansehen anstatt als Herr Müller oder Frau Meier.
Inzwischen hat Christian Seidel eine Position dazu gefunden, die manch einem radikal erscheinen mag. "Wir werden ja nicht als Geschlechteridentität geboren. Indem wir als Herr oder Frau angesprochen werden, ist das schon der Beginn von Diskriminierung. Weil die Begriffe sofort Assoziationen auslösen, die das, was der andere wirklich ist, einschränkt." Den Unterschied, so stellt Seidel fest, machen wir vor allem in der Sprache und er macht uns aggressiv.
Wie sehr, stellt Seidel immer wieder fest, wenn er als Frau unterwegs ist. Er wird häufig ungebeten angefasst, einmal sogar fast vergewaltigt. Seidel glaubt, dass das etwas mit dem Druck der Männer zu tun hat, etwas zu wollen, aber nicht zu dürfen. "Dieser Druck äußert sich bei vielen Männern darin, dass sie die Fähigkeit des Mitgefühl verlieren und nicht mehr merken, wo die Grenze des anderen ist." Welche Distanz muss ich einhalten, seelisch, aber auch körperlich? Die Männer, die ihm in der U-Bahn viel zu nahe kommen, wissen das nicht mehr.
"Ich bin ich"
Und auch Seidel gerät ins Trudeln. Zwischen ihm und seiner Frau geht es um ganz existenzielle Fragen. Ist er noch der Mann, den seine Frau erwartet und haben will? Was für ein Mann ist er überhaupt inzwischen? "Das hat zwischen meiner Frau und mir einen Prozess in Gang gesetzt, in Gesprächen, aber auch gefühlsmäßig und im Bett. Sie hat gemerkt, dass sie den Mann, den sie geheiratet hat, nicht verliert. Und wir haben gespürt, dass uns das, was dazukommt, bereichert."
Und noch eine wichtige Begegnung hat Seidel in dieser Zeit. Immer wieder erinnert er sich an den kleinen Jungen in sich und an seinen Vater, der am Abendbrottisch auftauchte und dann wieder verschwand. "Viele kleine Jungs hören: Wenn sie eines Tages richtige Männer sind, dann geht das Leben los." Wie wäre es aber, wenn schon Jungen die volle Bandbreite ihrer Gefühle und ihres Wesen ausleben könnten? Seidel vermutet, dass aus solchen Jungen vollständigere Männer werden, authentische Männer, gute Männer, Männer, wie Frauen sie suchen, obwohl sie ihre Leben auch gut ohne Männer hinbekommen können.
Je länger Seidel als Frau unterwegs ist, umso häufiger wird er gefragt, wann er endlich damit aufhört. Freunde wenden sich ab. In ihren Augen ist er kein richtiger Mann mehr. Doch genau das sieht Seidel vollkommen anders. Am Ende seines Experiments fühlt er sich angekommen. "Ich brauchte die Kleidung nicht mehr, um meine weibliche Seite zu spüren. Ich war ich."
Quelle: ntv.de