Die "Provokation" des Überlebens Kampusch verweigert sich der Opferrolle
11.08.2016, 10:04 Uhr Artikel anhören
Der Raum, in dem Kampusch festgehalten wurde, ist inzwischen verschüttet.
(Foto: dpa)
Nach acht Jahren in einem Kellerverlies gelingt Natascha Kampusch die Flucht. Ihr Peiniger tötet sich selbst. Für sie beginnt ein völlig neues Leben, es ist nur ganz anders als gedacht. Die Vergangenheit lässt sich nicht einfach abstreifen.
"In meinen Gedanken war ich immer frei, vor zehn Jahren habe ich es geschafft, die Mauern meiner Gefangenschaft zu überwinden", schreibt Natascha Kampusch in ihrem heute erscheinenden Buch "10 Jahre Freiheit". Kampuschs Namen muss man kaum erläutern. Oder es braucht nur ein Minimum an Worten für die Frau, die als Zehnjährige auf dem Schulweg entführt wurde und nach acht Jahren Gefangenschaft ihrem Peiniger Wolfgang Priklopil entkommen konnte.
Am 23. August jährt sich der Tag ihrer Selbstbefreiung zum zehnten Mal. Dass es ihr aus eigener Kraft gelungen ist, ihrem Entführer zu entfliehen, war Kampusch immer wichtig. Ist es bis heute. Sie war in der völlig kranken Konstellation eines Menschen unter beinah vollständiger Kontrolle und Beherrschung herangewachsen. Jetzt weigerte sie sich kategorisch, die ihr zugewiesene Opferrolle auszufüllen.
Das war in den zehn Jahren, die sie inzwischen wieder in Freiheit lebt, alles andere als einfach. Noch immer ist offenbar jedes noch so abstruse Gerücht dazu geeignet, dem Verbrechen und damit Kampusch selbst erneut jede Menge mediale Aufmerksamkeit zu bescheren. Die Art, wie sie mit ihrer Entführung und ihrer Gefangenschaft umgegangen sei, sei für viele eine Provokation gewesen, sagt sie. Auch deshalb hat sie sich wohl entschlossen, ihre eigene Sicht auf den Fall Kampusch noch einmal aufzuschreiben.
Nichts ist nur schwarz und weiß
Kampusch beschreibt zum Teil voller Bitterkeit, aber auch voller Verzweiflung, welche Theorien in den Jahren diskutiert wurden. Da gab es die These, sie stamme aus einem so schlechten Elternhaus, dass ihr die Gefangenschaft bei Priklopil als das kleinere Übel erschienen sei. Oder die, sie habe in ihrem Verlies ein Kind geboren und getötet. Oder die, sie sei nach zwei bereits geglückten Fluchtversuchen freiwillig zurückgekehrt.
Die inzwischen 28-Jährige setzt diesen oft verschwörungstheoretisch angehauchten Mutmaßungen ihre eigene, sehr differenzierte Sicht entgegen. Ja, sie sei ein Nachzüglerkind gewesen, schon hineingeboren in die sich verschlechternde Beziehung ihrer Eltern. Dennoch habe sie auch in der Gefangenschaft auf Dinge zurückgreifen können, die sie von zu Hause mitbekommen hatte, die Disziplin der Mutter, die Verträumtheit des Vaters, die Liebe ihrer Großmutter. Heute, betont sie, fühlt sich Kampusch in ihrer Familie durchaus wieder aufgehoben. Auch wenn sie, wie übrigens die meisten Menschen, keineswegs mit ihren Eltern in allen Punkten einer Meinung ist. Nein, sie habe kein Kind geboren. Die Locke, die das beweisen sollte, hatte sie sich selbst abgeschnitten, um sich des Gefühls ihrer eigenen Haare versichern zu können. Und sie sei genau dann geflohen, als es ihr möglich war.
Die Schärfe der Anfeindungen, denen sie bis heute ausgesetzt ist, lässt dem Leser gelegentlich den Atem stocken. Eine ältere Frau schlug ihr unter lauten Beschimpfungen vor ihrem Haus eine Zeitung auf den Kopf, in der in großen Buchstaben eine weitere erfundene Geschichte ausgebreitet ist. Wie es wirklich war, lässt Kampusch gelegentlich einfließen. Sie schreibt dann: "Natürlich war ich auch sexuellen Übergriffen ausgesetzt." Priklopil habe ihr einen anderen Namen geben wollen und sie für einige Jahre Bibiana oder Bibi genannt, für sich selbst sei sie aber immer Natascha geblieben.
Sie berichtet auch von Hunger und Durst und ihrem bis heute problematischen Essverhalten, weil Priklopil selbst einen Schluck Wasser als Belohnung vergab. Aber sie beschreibt eben auch, wie sie ihrem Peiniger im Lauf der Jahre immer mehr entgegensetzen konnte. Wenn er ihr den Strom abschaltete, das Essen entzog oder sie schlug, dann putzte sie eben "schlampig", hinterließ irgendwo ein Haar oder Fingerabdrücke, was Priklopil in seinem regelrechten Putzzwang geradezu wahnsinnig machte.
Pendeln zwischen zwei Polen
Die Zeit nach ihrer Selbstbefreiung dürfte ähnlich herausfordernd gewesen sein. Wie kehrt man in ein Leben zurück, das man gar nicht hatte? Wie geht man mit einer weltweiten medialen Aufmerksamkeit um? Wie verkraftet man die juristische Aufarbeitung?
Kampusch hat bereits wenige Tage nach ihrer Flucht in einem ersten Statement gesagt, man solle sie mit Verleumdungen ihrer selbst, Fehlinterpretation, Besserwisserei und mangelndem Respekt verschonen. Genau so könnte sie es heute immer noch formulieren. Inzwischen hat sie einen Schulabschluss, sie ist noch immer dabei, ihr Abitur zu machen, aber das kann noch dauern. Sie hat in Sri Lanka ein Krankenhaus gebaut und lebt weitgehend selbständig und unabhängig. Ihr gehört das Haus, in dem sie gefangen gehalten wurde, weil sie nicht wollte, dass es in falsche Hände gerät. Sie hat ihren Namen behalten, ist nicht in einem Zeugenschutzprogramm abgetaucht oder ausgewandert.
Jeder neue Tag sei eine Gratwanderung, ein Ausloten, was sie bewältigen kann und was nicht, schreibt Kampusch. Für sie sei es schon ein Sieg, dass sie noch lebe. "Ich lebe zwischen den beiden Polen aus der Stärke der Überlebenden und der Schwäche des Opfers."
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Quelle: ntv.de