
Wer kennt diese Jubelpose beim Fußball nicht? Filmszene aus "WINNER".
(Foto: Courtesy the artist, Société, Berlin)
Emotionen und Leidenschaft wecken, das können sie. Und polarisieren: Auf den ersten Blick sind Fußball und Kunst keine perfekten Teamplayer. Die Stiftung Fußball und Kultur EURO 2024 bringt sie zur EM jedoch zusammen. Museumsbesuche können so zur beglückenden Stadionalternative werden.
Durch den düsteren Spieltunnel geht es in Richtung Licht. Hinein in rhythmischen Lärm, ganz wie im Stadion. Das Publikum wird im Berliner Museum direkt auf das Spielfeld der Kunst gelockt. Das ist zunächst in wohliges Orange getaucht. Blut, Schweiß und Tränen fließen hier auf gleich drei Bildschirmen. Und in den Halbzeitpausen bieten zwei Imbissdamen Bier, Pommes und Hotdogs mit extra viel Soße an. Die raumgreifende Installation "WINNER" soll jetzt im 'Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart' jenseits der Fanmeilen die Fußball- und Kunstenthusiasten begeistern. Und auch ein wenig quälen.

Marianna Simnett testet leidenschaftlich Grenzen aus. Sie jagt sich für ihre Arbeiten schon mal Botox in ihre Stimmbänder oder hechelt sich in die Ohnmacht.
(Foto: Andrew White / LAS Art Foundation)
In ihrem neuesten Werk, das speziell für die Europameisterschaft entstand, seziert die britische Künstlerin Marianna Simnett den populärsten Sport der Welt. Schließlich geht es nicht nur um triumphierende Gewinner, sondern, wie im wirklichen Leben, auch um Schattenseiten. Marianna Simnett war überrascht, als die Museums-Kuratoren sie für die EM um eine fußballspezifische Arbeit für ihr Haus baten. Bis dahin hatte sie mit diesem Ballsport nichts am Hut. Sie sei als junges Mädchen eher ein Spice-Girl-Fan gewesen, erzählt sie bei der Präsentation von "WINNER".
Körperliche Arbeit
Neugier ist für die Künstlerin ein guter Verbündeter, sie stürzt sich in die Recherche. "Wir wurden von der Stiftung an die Hand genommen", sagt Charlotte Knaup, die die Co-Kuratorin der Auftragsarbeit ist. In Sachen Kicken ist sie ebenfalls ein Neuling. Und so fahren die Frauen nach Dortmund, ins Fußball-Museum. "Spätestens dort hat es bei uns beiden Klick gemacht", erzählt Knaup ntv.de. "Auf riesigen Leinwänden werden dort ikonische Fouls gezeigt und Spieler, die an ihre Grenzen gehen. Das ist es, was Simnett mit dem Sport teilt, auch bei ihr geht es um körperliche Arbeit", so Knaup weiter.

Die Halbzeit-Pausen mit Bier und fettigen Snacks gehören zum Phänomen Fußball dazu.
(Foto: Jacopo La Forgia)
Intensiv habe sich Marianna Simnett in das Thema gekniet und dabei den künstlerischen Prozess geteilt - eine sehr besondere Erfahrung für die Kuratorin, wie sie sagt. Zusammen besuchen sie auch ein Fußballspiel, trinken Bier, erspüren die Stimmung im Stadion. So hat sich das Duo in die ihnen fremde Welt von Ultra-Fans und Massenhysterie begeben. Diese Kraft des Publikums, dieses Beben im Stadion, sei faszinierend und schwinge sogar nach, wenn man das Spiel verlassen habe, findet Knaup. Im Endergebnis zeigt Simnett nun kompromisslos die sinnlose Gewalt der Hooligans, berühmte Fouls, toxischen Hass auf Schiris, unerträglichen Leistungsdruck, aber auch surreale Träumereien.
Breitbeinig die Eier kraulen erwünscht
Das 1848 an der University of Cambridge erfundene Spiel hat die 38-jährige Künstlerin mit einer Gruppe von TänzerInnen ins Jetzt katapultiert. Der Schiedsrichter ist eine Frau, ganz im Latexdress. Das ist überraschend und der 30-minütige Film bekommt trotz spritzendem Blut, klaffenden Wunden und gewalttätigen Hooligans eine erstaunliche Ästhetik und Leichtigkeit. Es blitzt sogar Humor durch. Hübsch gestylte Babys trällern im Stadion Fangesänge. KI macht es möglich. Wer mag, kann dabei auf Sieger-Podesten sitzen. Eines erstaunt und lockt sehr - an ihm hängen Hodensäcke, anfassen ist ausdrücklich erwünscht.

Auf einem besonderen Siegertreppchen einmal am Sack kraulen, so wie im Stadion vielfach gesehen ...
(Foto: Jacopo La Forgia)
"Das macht vielleicht nicht sofort jeder", so Charlotte Knaup lachend. Die ersten Abnutzungserscheinungen sind allerdings bereits zu sehen. Will die Künstlerin mit diesen detailgetreuen Abgüssen provozieren? Ist das einfach die realistische Beobachtung im Stadion und am Spielfeldrand? "Alles zusammen. Da ist dieser Schalk, aber gleichzeitig zerlegt sie typisches Männlichkeitsgebaren", so Knaup weiter. Nicht umsonst seien die TänzerInnen in Simnetts Filmarbeit teilweise Gockel mit Kehllappen an der Halskette. Da könne man sich doch schon mal breitbeinig sitzend ihre Videos anschauen und dabei "Eier kraulen".
Durch die Linse von Marianna Simnett können auch Nicht-Fußball-Fans das Spiel mit dem runden Leder anders betrachten. Die Arbeit verwehre eine eindeutige Auflösung oder Kritik, findet Charlotte Knaup. "Es mag kitschig klingen, aber Leute finden im Fußball eine Gemeinschaft, ein Zuhause", fasst sie zusammen. "Mal ist es die Konkurrenz, mal das Vereinende, alles ist möglich. Genau das gibt es in der Kunst ebenfalls." Die Bandbreite an Emotionen, das sei es, was einen immer wieder reinziehe.
Die Künstlerin sucht ein EM-Ticket
Für Amateure ist "WINNER" bestens geeignet und macht Lust auf mehr. Es wäre sicher Augen öffnend, mit Simnett live ein Spiel zu erleben. Die Künstlerin sucht übrigens nach EM-Tickets. Die Stiftung für Fußball und Kultur EURO 2024 kann ihr bei diesem Wunsch wohl nicht helfen. Aus ihrem Stiftungstopf wurde in Berlin mit "Radical Playgrounds" noch ein weiterer Ort finanziert. Auf dem Parkplatz des Gropius Bau ist ein temporärer Spielplatz aufgebaut. Die Auszeit inklusive Baumhaus, Heuhaufen, Wasserbecken oder Skatebahn kostet keinen Eintritt.

Wenn Spieler rotsehen. Brutalität, Niederlage, Jubel und Sieg liegen im Spiel nah beieinander.
(Foto: Courtesy the artist, Société, Berlin)
Das ist niederschwelliges Kunsterleben für alle. Die beteiligten Künstlerinnen und Künstler wollen, dass man sich von imaginären Regeln leiten lässt und nicht gegeneinander antritt, anders als beim Fußballmatch. Die Unterzeile des Parcours "From Competition to Collaboration" verrät es: Wer hier miteinander spielt und trainiert, soll die Freiheit haben, Vorschriften infrage zu stellen und dabei Situationen intuitiv zu verändern. Vielleicht können sogar alle gewinnen.
So wie auf der Halfpipe: Die kleinsten Spielwütigen haben sie zur Rutsche umgewandelt. Geht auch ohne Board prima! Das beliebte Teil stammt von Florentina Holzinger, die eigentlich am Theater arbeitet und für radikale Performances bekannt ist. Hier hat sie – ganz zahm – zwei schrottreife Autos auf die Seite gekippt und so die Stützen für die Bahn geschaffen. So einfach entsteht ein Teil für den künstlerischen Vergnügungspark, der gleichzeitig so cool ist.
Die EM verlängern, bitte ...

Der Plastikwurm, auch Rüsselrutsche genannt, von Yvan Pestalozzi hat es schon in Museen geschafft. Endlich ist er wieder bespielbar.
(Foto: Camille Blake)
In der Mitte, etwas versteckt, schlängelt sich der Lozziwurm. Der gelb-orange-geringelte Polyestertunnel stammt aus den 70ern. Während drinnen geklettert und getobt wird, können große BesucherInnen einen interessanten Streifzug durch die Geschichte des Spielplatzes unternehmen. Den Ersten gab es 1943 in Dänemark, von hier aus ging die Idee um die Welt. In dem neuen Spielraum am Gropius Bau tobt tagtäglich das reale Leben, er ist Platz der spielerischen Begegnung für alle Altersgruppen und Nationen. Eigentlich müsste "Radical Playgrounds" nach dem EM-Finale in eine mehrwöchige Verlängerung gehen.
Zur EM ist dank der Stiftung auch anderswo die Kunst am Ball. "Wohnorte gegen Geburtsorte" werden im Essener Museum Folkwang getauscht. Der Künstler Andreas Slominski hat Fußball-Plakate gesammelt und holt so vergangene Zeiten ins Bewusstsein. Er lässt sogar spezielles EM-Brot backen. Karikaturen befeuern in Hannover das Fußballfieber. Dort wird im Wilhelm Busch Museum ein bildreicher, kritischer und stets amüsanter Blick auf den König Fußball geworfen. Via VR-Brillen tauchen in Gelsenkirchen BesucherInnen in fünf der aufregendsten Fußballplätze Europas ab. Das Ganze findet sich nicht auf Schalke, aber in der Kirche St. Joseph.

"You can win, you can sin, you can do anything – in the next life." Gigi Spelsberg performt als Hotdog-Verkäuferin.
(Foto: Courtesy the artist, Société, Berlin)
Keine Lust auf solche einmaligen Fußball-Kunst-Erlebnisse? Es gibt auch Tanz, Musik, Theater, Film und Workshops rund um den Ballsport. Insgesamt wurden zur EM von der Stiftung in zehn Städten 60 Kulturprojekte gefördert. Also runter von der Reservebank, rein in die Kultur. Am Ende ist es so simpel wie in dem legendären ABBA-Song: "The Winner takes it all".
WINNER, bis zum 3. November, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, 10557 Berlin
Radical Playgrounds: From Competition to Collaboration, bis zum 14. Juli, Gropius Bau auf der Parkfläche, 10963 Berlin
Das gesamte Programm der Stiftung Fußball und Kultur Euro 2024 finden Sie hier
Quelle: ntv.de