Über (fehlendes) Taktgefühl Vielleicht ist der andere ja doch kein Idiot


Aus einem Freund-Feind-Denken entsteht immer Distanz.
(Foto: IMAGO/Rolf Poss)
Moralisierung und Polemik heizen den öffentlichen Diskurs auf und teilen die Gesellschaft in ein Freund-Feind-Schema. Dagegen helfen könnte etwas mehr Taktgefühl, meint der Philosoph Martin Scherer.
Das Schlagwort der verrohten Gesellschaft macht die Runde - und es fällt schwer, kraftvoll dagegen zu argumentieren. Im politischen Diskurs darf kein verbales Extrem fehlen, da werden Menschen, die sich auf die Straße kleben, zu "Klimaterroristen" und wer regenerative Energien befürwortet, ist Teil der "Heizungsstasi". Die Netzwerke der digitalen Welt dienen der andauernden Zuspitzung als ideale Echokammern. Wenn es um Stilfragen geht, haben zuletzt selbst Regierungsparteien durch öffentliche Selbstzerfleischung kein besonders gutes Vorbild abgegeben. Wer will da ernsthaft der These widersprechen, dass unseren alltäglichen Umgangsformen ein Reset ganz guttun würde?
Wie der gelingen kann trotz verhärteter Fronten, erklärt der Münchner Philosoph Martin Scherer in seinem Essay "Takt": mit Höflichkeit und Distanz. Scherer teilt die Gesellschaft nicht in Gut und Böse, falsch und richtig. Gleich zu Beginn wendet er sich nicht an diejenigen, die allzu laut und ungefiltert kommentieren, sondern schreibt: "Es wird unentwegt moralisiert." Man denkt unvermittelt an den Vorwurf an die Grünen, eine Verbotspartei zu sein. Was überraschend viele Menschen dazu veranlasste, neue Gas- und Ölheizungen zu bestellen. Bilden Moral und Polemik einen ewigen Kreislauf?
"Das hat sicher so einen Wechseleffekt", sagt Scherer im Gespräch mit ntv.de. "In dem Moment, wo es scheinbar Tabus und Sprachregelungen gibt, wächst als Reaktion die Lust am Übertritt und fast schon archaischen Drang zur Provokation." Eine Trotzreaktion auf die Moral, die häufig sogar darin mündet, wissenschaftlich belegte Erkenntnisse infrage zu stellen, etwa mit Blick auf den Klimawandel.
Auch in dieser Thematik differenziert der Philosoph: "Man kann nicht über den Klimawandel streiten und über Maßnahmen, die er zeitigen muss", sagt Martin Scherer, "aber man kann natürlich darüber diskutieren, welche Wege und Zeitvorstellungen angebracht sind. Gerade da, wo die Apokalypse gewissermaßen vor der Tür zu stehen scheint, bekommt die Moral etwas Ultimatives."
Bekanntermaßen erfahren Themen mit moralischer Tragweite selten eine ausgewogene Diskussion, sondern entwickeln sich rasch zu Glaubensfragen. Auf manch einem Verbrenner prangt am Heck ein Aufkleber: "100 Prozent Diesel - Mein Auto braucht keinen Stecker." Es scheint den Impuls zu geben, die persönliche Entscheidung nicht nur öffentlich kundzutun, sondern zum politischen Widerstand zu verklären. "Es stimmt, es gibt nicht mehr Gewohnheiten oder Überzeugungen im Plural, die nebeneinander existieren können, sondern nur Freund oder Feind -Gesinnungsgenossen, egal zu welchem weltanschaulichen Thema da jetzt gerade debattiert wird", sagt Scherer.
Im Gehirn vollzieht sich die gesellschaftliche Spaltung schon sehr früh. Bereits im Kindergarten bilden sich soziale Gruppen, denen wir uns zugehörig fühlen. Innerhalb der jeweiligen Gruppe ist die Empathie ausgeprägter als für andere. Das Freund-Feind-Denken wird umso gravierender, desto weniger Dialog zwischen den Gruppen stattfindet. Hinzu kommt eine neue Form des Narzissmus, den die Psychologie beobachtet: Die eigentlich gut gemeinte Idee der Selbstverwirklichung führt dazu, die eigenen Befindlichkeiten in jedem Moment wichtiger zu nehmen als die der anderen. Wo bleibt da noch Platz für Taktgefühl?
"Takt setzt eine Selbstdistanz voraus, eine respektvolle Geste gegenüber dem anderen", sagt Scherer. Er empfiehlt einen simplen Gedankengang, "nämlich die implizite Vermutung, der andere könnte auch kein Vollidiot sein". Dadurch könne es gelingen, auch bei gegensätzlichen Meinungen "Zwischentöne zu kultivieren, die Respekt vor dem anderen und seiner Art zu denken ausdrücken."
Scherer verweist darauf, dass mit Blick auf Kinder und Jugendliche immer wieder die Bedeutung der Digitalisierung hervorgehoben werde, aber praktisch nie das Erlernen einer Debattenkultur. Das schlägt sich wiederum in den digitalen Medien nieder. Die Zahl jugendlicher Opfer von Cybermobbing wächst stetig an, ebenso die Fallzahlen von Hate Speech. "Die Anonymität, die Gesichts- und Namenslosigkeit erzeugt so etwas wie eine Kolosseumsituation: Daumen rauf, Daumen runter", sagt Scherer.
In seinem Essay beschreibt der Philosoph Takt als eine Art des Schauspiels, die unser Alltagsleben - als Gesellschaftsspiel verstanden - deutlich erleichtern könne. "Freundlichkeit hat nichts mit Verlogenheit zu tun, denn das Gegenteil von Schein ist nicht Wahrheit, sondern Rohheit", erklärt Scherer. "Allerdings haben wir in Deutschland immer noch diese Vorstellung: Wer höflich ist, lügt."
Dass man zum Lügen nicht höflich sein und Taktlosigkeit dem persönlichen Erfolg nicht schaden muss, zeigt ein Blick in die USA. Donald Trump wurde gerade erneut zum US-Präsidenten gewählt, obwohl er die Grundregeln der Demokratie missachtet und seine Wahlniederlage vor vier Jahren bis heute nicht anerkennt. Der Reichtum seines Beraters Elon Musk ist weiter angewachsen, seit er Twitter kaufte und als X Fake News und Rassismus Tor und Tür öffnete.
"Die Situation in den USA erinnert mich an den römischen Bürgerkrieg: Es gibt nicht mehr die gemeinsame Sache, auf die sich alle einigen können, sondern den Kampf zweier Lager", sagt Scherer. "Am Ende liegt die Macht bei einer Person, die Lösungen verspricht - schnelle Lösungen." Dafür seien manche bereit, frühere Wertvorstellungen aufzugeben.
Für den Alltag könne ein kurzes Zeichen der Einsicht eine Situation oft entschärfen, ob im Straßenverkehr, im Supermarkt oder beim Rempler in der engen S-Bahn. "Es ist eine Lebenserleichterung, damit ist eine Situation gerettet", sagt Scherer. "Das ist das Schöne an anderen Sprachen, dass es eben so ein kurzes 'Sorry', 'Pardon' oder 'Scusi' gibt. Wir sagen: 'Ich bitte um Entschuldigung'. Da fährt sofort eine Schrankwand hoch."
Quelle: ntv.de