Herr Kahrs, wie geht das SPD-Mitgliedervotum aus? "80 Prozent sind für die Große Koalition"
10.12.2013, 09:57 Uhr
Die SPD-Spitze um Parteichef Sigmar Gabriel empfiehlt die Zustimmung zum Koalitionsvertrag.
(Foto: picture alliance / dpa)
Die SPD-Basis entscheidet über die Große Koalition. Der Abgeordnete Johannes Kahrs spricht im Interview mit n-tv.de über das lukrative Finanzministerium und den Stimmungswechsel in seiner Partei. Kahrs sagt: "Frau Slomka hat uns unendlich geholfen."
n-tv.de: Nach der Wahl haben Sie gesagt: "Wir wollen keine Große Koalition. Wir empfehlen die Grünen als Koalitionspartner." Jetzt kommt es wohl doch anders. Sind Sie zufrieden?
Johannes Kahrs: Die Grünen haben sich in die Büsche geschlagen. Grundsätzlich ist es immer richtig, wenn eine große Partei mit einer kleineren koaliert. Eine Große Koalition sollte die Ausnahme bleiben, aber man kann auch nicht so lange wählen lassen, bis es irgendwann passt. Wir haben keine andere Möglichkeit als die Große Koalition. Eine Minderheitsregierung wird die CDU nicht machen. Rot-Rot-Grün klappt nicht, weil der Westteil der Linken nicht regierungsfähig ist.
Sind Ihre Bauchschmerzen gegenüber der Großen Koalition weniger geworden?
Naja. Eine Koalition mit einer Partei, die die Diskriminierung von Lesben und Schwulen und von Ausländern als Markenkern hat, ist nicht schön. In manchen Punkten, zum Beispiel bei der doppelten Staatsbürgerschaft und bei der Rente, mussten wir uns verbiegen, in anderen haben wir uns durchgesetzt.
Der Doppelpass ist für Sie kein Erfolg?
Für die Jungen schon, die müssen sich nicht mehr entscheiden. Aber was wir erreicht haben, ist natürlich nur ein halber Erfolg. Alle Älteren, die seit 30 oder 40 Jahren hier wohnen und Steuern zahlen, sind angefressen und das kann ich verstehen. Das Problem ist: Wenn wir eine absolute Mehrheit kriegen wie in Hamburg, können wir unser Programm 1:1 umsetzen, aber sonst müssen wir eben Kompromisse machen.
Anfang Oktober haben Sie gesagt: "Wir gehen nur in eine Große Koalition, wenn wir das Finanzministerium bekommen." Danach haben Sie einen Rüffel bekommen.
Ärger gab es nur von Frau Nahles. Mein Fraktionschef und mein Parteivorsitzender waren nicht dabei. Aber ich halte es immer noch für richtig, was ich damals gesagt habe.
Im Moment sieht es ja nicht so aus, als ob die SPD den Finanzminister stellen wird.
Der Koalitionsvertrag ist veröffentlicht. Wie geht es weiter?
- Bis 6. Dezember bekommen alle 475.000 Stimmberechtigten ihre Unterlagen zur Briefwahl.
- Vom 6. bis 8. Dezember soll in den Unterbezirken und Ortsvereinen bei Veranstaltungen diskutiert werden.
- Bis zum 12. Dezember um 24.00 Uhr müssen die Stimmen im Postfach des Parteivorstands eingegangen sein.
- Am 13. Dezember werden die Briefe in eine angemietete Halle in Berlin-Kreuzberg gebracht und von sogenannten Hochleistungsschlitzmaschinen geöffnet.
- Am 14. Dezember werden sie ausgezählt. Rund 400 Helfer unterstützen, noch am Abend wird wohl das Ergebnis bekannt gegeben.
Das wissen nur drei Menschen in dieser Republik. Ehrlich gesagt, bin ich mir über nichts sicher. Nehmen wir Sigmar Gabriel. Ich glaube, er kann alles: Vizekanzler und Arbeit und Soziales, oder Wirtschaft oder sogar den Fraktionsvorsitz. Ich würde ihn aber lieber als Finanzminister sehen. Am Ende entscheidet er das selbst.
Viele Mitglieder kritisieren, dass noch nicht bekannt ist, wer welches Ministeramt übernehmen soll.
Es gibt einen Wunsch von einem Teil der Basis, das nur über Inhalte diskutiert wird und nicht über Namen. Ich persönlich würde die Ressortverteilung schon gerne wissen. Es ist ein bisschen wie Weihnachten, man muss seine Geschenke nicht am 15. Dezember sehen. Die paar Tage kann man auch noch warten.
Sie sprechen mit vielen Sozialdemokraten in diesen Tagen. Wie ist die Stimmung?
Garantiert nicht euphorisch. Aber ich bin überrascht über die Dynamik. Wahrscheinlich gab es noch nie einen Vertrag, den so viele Menschen gelesen haben. Dass es eine so lebendige Geschichte wird, hätte ich nicht gedacht. Und je mehr ihn lesen, desto besser wird die Stimmung. Was uns unendlich geholfen hat, war Frau Slomka …
Sie meinen das Interview zwischen Gabriel und der ZDF-Moderatorin Marietta Slomka im "Heute-Journal" …
So ein Unsinn, dass ein Präsidium der CSU oder ein kleiner CDU-Parteitag verfassungsgemäß, aber eine Abstimmung aller SPD-Mitglieder undemokratisch sein soll. Dieser Professor Degenhart kann nicht unbedingt eine Leuchte sein. Und die Slomka hätte ich nicht so schlecht eingeschätzt. Sie bekommt das freundlich von Sigmar Gabriel erklärt, stellt dann aber unsere ganze Partei in eine Ecke und sagt, wir würden etwas Verfassungswidriges machen. So etwas Absurdes! Das hat bei uns viele Leute angefressen und einen großen Solidarisierungseffekt ausgelöst.
Sie glauben, das Interview treibt sogar SPD-Mitglieder vom Nein zum Ja?
Das weiß ich nicht, aber es führt zumindest zum Nachdenken darüber, was wir hier eigentlich machen. Jeder bei uns übernimmt jetzt Verantwortung, als wäre er der Parteivorsitzende. Da gibt es Leute, die sagen: "Johannes, meine Zustimmung hängt an zwei Punkten. Wenn es die nicht gibt, kann ich auch nicht zustimmen."
Versuchen Sie Nein-Sager zu überzeugen?
Ich verteidige nur mein Ja. Man darf niemanden in die Ecke treiben. Ich kann jeden verstehen, der dagegen ist, aber für mich komme ich eben zu einer anderen Lösung. Also erkläre ich jedem, wie ich zu meinem Ja komme.
Mal angenommen, die Basis stimmt Mitte Dezember nur mit 55 Prozent für die Große Koalition. Ganz optimal wäre das auch nicht, oder?
Wenn die Mitglieder das beschließen, dann ist es so. Es hätte die allerhöchste Legitimation, die es in einer Partei geben kann. Würde eine solche Frage auf einem Parteitag 55:45 ausgehen, wäre es schwieriger.
Was ist Ihre Prognose für den Ausgang des Votums?
Ich schätze, dass 80 Prozent für die Große Koalition sind. Vor zwei Wochen hätte ich übrigens noch 50:50 gesagt.
Seit der Vertrag steht, hat sich die Stimmung zugunsten der Großen Koalition gedreht.
Am Anfang war die Stimmung massiv dagegen. Jetzt können die Leute sehen, dass hinter fast jedem Punkt ein Haken steht. Mindestlohn, Rente mit 63, Mietpreisbremse - als Sozialdemokrat kann man eigentlich gar nicht mehr dagegen sein. Wir haben jetzt die Chance, für viele Menschen etwas Gutes zu machen. Dass wir dabei auch Sachen machen, von denen wir weder begeistert noch überzeugt sind, gehört dazu.
Sie haben auch die letzte Große Koalition erlebt. Wie kann die SPD diesmal verhindern, nach vier Jahren wieder als Verlierer dazustehen?
Die SPD sollte klar zeigen, wofür sie zuständig ist und was sie durchgesetzt hat. Nehmen wir die Rente. Wir wollten sie steuer-, jetzt wird sie aber beitragsfinanziert. Man muss dem Wähler sagen, was er bekommen hätte, wenn er uns mit mehr als 25 Prozent beglückt hätte.
Ist es denkbar, dass die Basis künftig häufiger eingebunden wird, zum Beispiel bei der Wahl des Kanzlerkandidaten?
Man darf es nicht übertreiben. So ein Votum ist schweineteuer, es kostet eine Million Euro. Ich denke, es ist vor allem dann sinnvoll, wenn komplizierte Entscheidungen anstehen. So wie jetzt: Die Grundstimmung in der Partei war gegen die Koalition. Hätte ein Parteitag das einfach beschlossen, wäre es schwierig geworden.
Glauben Sie, es gäbe nur Austritte oder sogar eine Spaltung?
Mein Opa hat mal gesagt: "Man tritt mit 18 in die SPD ein und dann stirbt man. Zwischendurch darf man meckern, aber nicht austreten." Es gibt ein paar wenige Leute, die wegen eines Themas ein- und wegen eines anderen wieder austreten. Aber in der Regel tritt der Sozialdemokrat nicht einfach aus, er ist höchstens unzufrieden und dann macht er auch keinen Wahlkampf mehr. Aber eine Partei lebt davon, dass die Leute mitmachen. Deswegen hat das Votum eine heilende Wirkung, es war eine geniale Idee von Sigmar Gabriel.
Ist das seine härteste Prüfung als Parteichef?
Das war 2009, als er den Laden nach der verlorenen Wahl hervorragend zusammengehalten hat. Jetzt macht er es wieder à la bonheur.
Könnte Gabriel bei einem Nein überhaupt Parteichef bleiben?
Die, die mit Nein stimmen, richten das ja nicht gegen ihn, sondern gegen Angela Merkel. Gabriel ist ein verdammt guter Parteivorsitzender. Deshalb würde ich dafür kämpfen, dass er bleibt. Ich weiß aber nicht, ob das reicht. Die Gesetze unserer Zeit sind andere.
Mit Johannes Kahrs sprach Christian Rothenberg
Quelle: ntv.de