Letzte Chance für Neustart Ägypten droht ein Bürgerkrieg
09.07.2013, 11:55 Uhr
Das Militär hat die Kontrolle übernommen. Dennoch ist weiter Chaos zu befürchten.
(Foto: AP)
In Ägypten gibt es eine letzte Hoffnung, dass nach der Entmachtung Mursis und den heftigen Kämpfen in Kairo ein geordneter politischer Neustart möglich ist: In sechs Monaten soll es Wahlen geben. Doch es bleibt fraglich, ob das Militär und Übergangspräsident Mansur die Lage bis dahin beruhigen können.
Die Nacht in Kairo ist ruhig geblieben. Zum Glück. Der Tag zuvor wird dagegen als schwarzer Montag in die Geschichte Ägyptens eingehen. So viele Tote an einem einzigen Tag hatte es seit Beginn des Arabischen Frühlings vor zwei Jahren nicht gegeben. Und fast alle der Toten sind auf Seiten der Moslembrüderschaft und ihrer Anhänger zu beklagen. Die Brüderschaft spricht von einem "Massaker". Als Reaktion auf die Ereignisse haben die Salafisten weitere Gesprächen zur Regierungsbildung abgesagt, ganz egal, wie der Kandidat für den Premierminister heißt. Die Moslembrüderschaft hatte bereits zuvor erklärt, daran gar nicht erst teilzunehmen. Der oberste sunnitische Glaubenslehrer, Großimam al-Tajeb, will sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen und bis zu einem Ende der Gewalt aus dem öffentlichen Leben fernhalten. Alles keine ermutigenden Signale für Übergangspräsident Adli Mansur.
Die Lage ist und bleibt genauso angespannt wie zuvor, obwohl - seit dem Abend gibt es einen Zeitplan für Neuwahlen von Präsident und Parlament im nächsten Jahr.
Auf dem Weg zum Tahrir-Platz, dem zentralen Punkt der City für die Mursi-Gegner, sind wieder improvisierte Checkpoints mit Stacheldraht eingerichtet. Junge Aktivisten, die meisten unter 20, kontrollieren Papiere und untersuchen alle, die auf den Platz wollen, auf Messer und andere scharfe und spitze Gegenstände. Auch ausländische Journalisten werden nicht mehr einfach durchgewinkt, sie sind auch nicht mehr so willkommen wie letzte Woche. Viele nehmen dem Westen übel, dass er die Entmachtung Mursis am letzten Mittwoch als Putsch bezeichnet hat. Ein langgezogenes Transparent spannt sich über den Eingang der Zeltstadt auf dem Platz: "Nein zur Administration Obama, Ja zum amerikanischen Volk". Ein paar Meter weiter heißt es auf einem anderen Plakat deutlicher: "Obama unterstützt Diktator Mursi". Und auch "Schande über CNN". Dreharbeiten von Fernseh-Teams werden inzwischen häufig gestört. Anti-Amerikanismus bricht sich die Bahn.
Islamisten geben Militär die Schuld
Die nur 300 Meter vom Tahrir-Platz liegende Zufahrtsstraße zur US-amerikanischen Botschaft, die seit letztem September mit großen Steinquadern für Autos und Fußgänger vollständig verbarrikadiert ist, wird zusätzlich durch drei Mannschaftswagen der Polizei geschützt. Die Sicherheitskräfte wollen vermeiden, dass die Botschaft mit Steinen und Molotow-Cocktails angegriffen wird.
Eine gute halbe Autostunde weiter in Nasr, der Hochburg der Islamisten, werden auch heute die vielen Toten vom Montag beklagt. Hier kursieren mehrere Versionen darüber, was gestern früh wirklich passiert ist. Alle laufen jedoch darauf hinaus, dass das Militär ohne Vorwarnung auf die Mursi-Anhänger geschossen habe. Dass die Version der Armee eine andere ist, interessiert sie hier wenig. Das Militär sei amerikanisch-zionistisch unterwandert. Für den Dienstag hat die Moslembrüderschaft zu einem landesweiten Aufstand gegen das Militär aufgerufen.
Die Partei Freiheit und Gerechtigkeit, die als der politischer Arm gilt, hat auf ihrer Facebook-Seite "das große ägyptische Volk aufgerufen, sich gegen die zu erheben, die die Revolution mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen stehlen wollen und dabei auch über Leichen gehen". Neue blutige Zusammenstöße scheinen programmiert. Experten warnen bereits seit Tagen vor einer Radikalisierung der Islamisten und wachsendem Einfluss von Al Kaida. Neue Unruhen und gezielte Rache-Akte radikaler Islamisten wären Gift für Ägypten.
Es droht weiteres Chaos
Das Militär ist seit dem Tag der Mursi-Entmachtung in erhöhter Alarmbereitschaft. Am Freitag und Sonntag, als mehrere Hunderttausend Menschen der beiden verfeindeten Lager am Tahrir und in Nasr gegen und für den entmachteten Präsidenten demonstrierten, donnerten immer wieder Jagdflieger der Armee über die beiden Demonstrationszentren, Helikopter kreisten bis in die späte Nacht am Abendhimmel, in allen großen Zufahrtsstraßen gepanzerte Fahrzeuge mit Soldaten, jederzeit bereit, einzugreifen. Zusammenstöße verhindern konnte die Armee dennoch nicht.
Gelingt es nicht, die Lage in den nächsten Tagen zu entspannen, droht Ägypten weiter in Richtung Chaos zu driften. Übergangspräsident Mansur, von dem ohnehin viele glauben, er werde vom Militär gesteuert, könnte sich gezwungen sehen, über das gesamte Land den Ausnahmezustand zu verhängen. Oder die Armee übernimmt womöglich gleich direkt die Macht. Wenn das passiert, wäre dies das vorläufige Aus für die zweite Chance auf einen Neustart nach dem Arabischen Frühling.
Quelle: ntv.de