Wie Assia das Ghetto überlebte Als sich die Kirschen mit Blut vermischten
05.06.2014, 11:34 Uhr
Das einzige Foto aus ihrer Kindheit: Assia im Jahr 1936 mit ihren Eltern Esther und Grigorij Klurfeld.
(Foto: privat)
Der Bundestag erhöht heute die Ghetto-Renten, doch gibt es nicht mehr viele Überlebende, die davon profitieren. Eine von ihnen ist Assia Gorban. Wie durch ein Wunder hat sie Ghetto und KZ überlebt - und kaum Fassbares ertragen.
Es war ein heißer Sonntag im Juni, als Assia Klurfelds Welt zerbrach. Sie saß auf der Fensterbank des kleinen Hauses ihrer Eltern, ihre Füße baumelten zur Straße und aus dem runden schwarzen Wandradio verkündete eine Stimme etwas, was die 8-Jährige kaum verstand: Deutschland hatte die Sowjetunion angegriffen, es herrschte Krieg.

Der jüdische Friedhof von Mogilev-Podolsky. Vor dem Krieg lebten in der Stadt rund 9000 Juden, rund zwei Drittel von ihnen starben im Holocaust.
(Foto: Edgar Hauster)
Schon wenig später, im Juli 1941, kam der Krieg nach Mogilev-Podolsky, jene ukrainische Stadt am Dnistr an der Grenze zu Rumänien. Assia sah die ersten deutschen Soldaten auf Motorrädern durch die verstaubten Straßen fahren und war beeindruckt. "Es waren so schöne Männer, sauber, rasiert, mit Stiefeln", erinnert sich Assia Gorban, wie sie seit Langem heißt, im Gespräch mit n-tv.de. "Auf ihren Mundharmonikas spielten sie Lili Marleen."
Doch auf den Straßen gab es noch andere Töne zu hören, Kommandos: "Achtung, Achtung". Assia hörte, wie Kinder in deutschen Militärautos saßen und weinten. Sie hörte Schüsse, das Bellen der Wachhunde. Sie musste einen gelben Stern auf der Brust und dem Rücken tragen und sie durfte nicht mehr zur Schule gehen. Dann kam der Befehl: Alle Juden der Stadt hatten sich im Zentrum der Stadt zu versammeln. Sie mussten eine Mauer bauen, eine Ghetto-Mauer.
Es war erst der Anfang. Bald darauf begannen die Deportationen, die Juden sollten sich am Bahnhof versammeln und ihre Wertsachen abgeben. Assias Mutter Esther flocht sich den Ehering, den schon ihre Großmutter besessen hatte, in ihr schwarzes Haar, einige Geldscheine nähte sie in den Kragen von Assias Bluse. Dicht an dicht wurden sie in Viehwaggons gequetscht, die tagelang durch die hügelige Landschaft ruckelten. Ihr Ziel war Petschora, einstmals ein Sanatorium für Lungenkranke. Nun war es ein KZ, betrieben von Rumänen, die mit den Deutschen kollaborierten.
Den Moment, als sie in Petschora ankamen, vergaß Assia nie: Kinder auf dünnen Beinen und mit vor Hunger aufgeblähten Bäuchen wankten ihr entgegen. Sie, ihre Eltern, ihr kleinerer Bruder Isaak, die Großeltern, Tanten und Kusinen wurden in Baracken gepfercht. Zu essen gab es nichts, gelegentlich warfen die Küchenfrauen, die für die Wachmannschaften kochten, Kartoffelschalen aus dem Fenster. Die Kinder stürzten sich auf die Schalen und rösteten sie über einem Feuer.
Manchmal konnten sie etwas mit den Ukrainern jenseits der Mauer tauschen. Kleidung oder die letzten Wertsachen gegen Kartoffeln, Brot oder Obst. Einmal, so erzählt Assia, sei ein Junge aus dem KZ auf die gut drei Meter hohe Mauer geklettert. Nie werde sie das Bild verlassen: Von den Ukrainern auf der anderen Seite bekam er einen Eimer voller Kirschen, er war außer sich vor Freude. Dann fiel der Schuss. Der Junge stürzte von der Mauer, überall lagen zerquetschte Kirschen, Blut lief über sie.
"Sie wurde wie ein Tier vor lauter Angst"
Für Assias Mutter stand von Anfang an fest: "Und wenn es mich das Leben kostet, wir müssen hier weg." Sie bestach zwei ukrainische Polizisten, abends machte sie sich mit ihrer Tochter und einer Nichte auf den Weg. Doch sie wurden entdeckt, Wachkräfte schlugen mit einem Gewehrkolben auf sie ein. Ihre Mutter wurde blauschwarz geprügelt, Assias Kusine verlor tagelang die Sprache. "Sie wurde wie ein Tier vor lauter Angst", so Assia Gorban. Nur indem die Mutter wieder zwei Polizisten bestach, entkamen sie dem Tod durch Erhängen.

Assias Großvater Jankel Klurfeld rettete ihrem Vater Grigorij das Leben. "Er ist verrückt", sagte er, als die Deutschen diesen aus dem KZ deportieren und erschießen wollten. "Nehmt mich".
(Foto: privat)
Assias Mutter ließ sich nicht abschrecken. Einige Wochen später unternahm sie, diesmal nur mit ihrer Tochter, einen weiteren Fluchtversuch. Bei Dunkelheit stahlen sie sich aus dem Lager und schlichen durch einen Wald. Noch heute steht es Assia klar vor Augen: Der Moment, als sie plötzlich im Sumpf versank, tiefer und tiefer. In ihrer Verzweiflung schrie die Mutter mitten in der Nacht um Hilfe - und das Unvorstellbare geschah: Zwei Männer, die ebenfalls aus dem KZ geflohen waren, hörten sie. Auf Baumstämmen robbten sie sich zu Assia vor und zogen sie aus dem Sumpf. Ihre Beine hingen voller Blutegel.
Die Flucht dauerte noch lange. Nachts irrten sie durch Wälder, tagsüber versteckten sie sich vor den deutschen und rumänischen Besatzern. Schließlich erreichten sie wieder Mogilev-Podolsky. In dem Haus ihrer Großmutter, wo sie zuletzt gelebt hatten, wohnten inzwischen Juden aus Rumänien, so bezogen sie den Kohleschuppen im Hof.
Und sie überlebten den Krieg wie durch ein Wunder. "Unser Glück war es wohl, dass die Rumänen das Sagen hatten. Sie waren nicht so streng wie die Deutschen", glaubt Assia Gorban. Jeden Morgen von Frühjahr bis Herbst ging sie mit ihrem vier Jahre jüngeren Bruder, der inzwischen auch mit dem Vater aus dem KZ geflohen war, zu einem zentralen Sammelpunkt. Dort trafen sich die verbliebenen jüdischen Kinder aus dem Ghetto, um gemeinsam auf die Felder in die Berge zu ziehen. Für ein wenig Geld zupften sie Unkraut, suchten nach Kartoffeln, die die Trecker übriggelassen hatten. Stundenlang hockten sie auf dem Boden, in Regen und Schnee, bei sengender Hitze. "War der Brigadier ein Mensch, dann war es menschlich und wir bekamen auch mal Milch und Brot", erinnert sich Assia Gorban. "War der Brigadier ein Mörder, dann hat er uns auch bewacht wie ein Mörder."
Anfang 1944 rückte die Front näher. Am 19. März lieferte sich die Rote Armee die letzten Gefechte mit den Besatzern. Die Stadt war in Rauch gehüllt, von allen Seiten schlugen Bomben ein, viele Häuser brannten. Wer konnte, verschanzte sich in Häusern und Kellern. Doch Assia war neugierig, sie wollte wissen, ob es ihre Grundschule noch gab. Sie nahm ihren Bruder bei der Hand und rannte mit ihm zu dem brennenden Gebäude, das mittlerweile als Lazarett für deutsche Soldaten diente.
Als sie die Schule betrat, bot sich ihr ein Anblick, der sie bis heute verfolgt: In ihrem einstigen Klassenzimmer lagen Tote, verbrannt, versenkt, mit klaffenden Wunden. In der Küche aber stieß sie auf ein Paradies: Säcke mit Mehl, Graupen, Zucker. Sie raffte, so viel sie tragen konnte - und dann entdeckte sie noch etwas: eine weiße Terrine von Rosenthal, auf der Rückseite ein Reichsadler und ein Hakenkreuz. "So etwas Schönes kannten wir in der Sowjetunion ja gar nicht", erinnert sie sich. Sie drückte die Terrine ihrem Bruder in die Hand, bevor sie durch das Gefechtfeuer zurück nach Hause liefen.
Der Krieg endete noch am selben Tag, doch der Hunger und der Kampf ums Überleben dauerten lange an. Assia musste drei Jahre Schule nachholen, doch immerhin: Sie, ihre Eltern, ihr Bruder und die meisten Verwandten hatten überlebt. Nur den Großvater Jankel Klurfeld hatten die Deutschen erschossen. Er hatte sich für Assias Vater eintauschen lassen, als die Deutschen jüdische Männer aus dem KZ abtransportierten und sie zwangen, ein Stück Erde auszuheben - ihr eigenes Grab.
"Das war doch einer von denen"
Inzwischen wohnt Assia Gorban in Berlin, im Land ihrer einstigen Verfolger. Sie fühlt sich wohl, Groll hegt sie nicht. Es gebe halt verschiedene Menschen in allen Nationen und letztlich gelte: "Der Mensch ist nicht mehr als ein Mensch." In ihren ersten Jahren in Deutschland, Anfang der 90er-Jahre, habe sie manchmal noch alte Männer gesehen, mit Stock und jenen Gesichtern, die sie mit einem stechenden Blick durchbohrt hätten. "Da dachte ich: Das war doch einer von denen."
Kein Tag vergeht, an dem Assia Gorban nicht etwas unternimmt. Sie ist Mitglied der Repräsentantenversammlung der jüdischen Gemeinde in Berlin, sie sitzt dort in verschiedenen Ausschüssen, leitet die Berliner Sektion von Holocaust-Überlebenden "Phönix aus der Asche" und kümmert sich außerdem regelmäßig um Bewohner eines jüdischen Altersheims. 2006 zeichnete sie der Berliner Senat für ihr Engagement mit einer Ehrennadel aus. "Mir geht es gut", sagt sie, "ich brauche nicht mehr". Seit 2010 bezieht sie eine Ghettorente, 140 Euro im Monat. Dass sie in Kürze eine Rentennachzahlung erhält, freut sie und sie weiß auch schon, wofür sie diese ausgeben will: für ihre drei Enkel und ihre Urenkelin - und vielleicht für eine Reise. Doch wichtiger als alles Geld ist ihr vor allem eins: "Gebe mir Gott noch ein paar Jahre zu leben!" Bei allem, was ihr widerfahren ist, liebt Assia Gorban das Leben.
In einer Kommode in ihrem Wohnzimmer verwahrt sie das einzige Erinnerungsstück, das ihr aus der Kindheit geblieben ist: die Rosenthal-Suppenterrine mit Adler und Hakenkreuz. Made in Germany 1942.
Quelle: ntv.de