Die Rente und die Ghetto-Arbeiter "Die deutsche Justiz hat massiv versagt"
08.04.2014, 20:22 Uhr
Die meisten Ghetto-Bewohner starben im Holocaust.
(Foto: AP)
Das Bundeskabinett hat beschlossen: Tausende jüdische ehemalige Ghetto-Arbeiter sollen nun eine Rentennachzahlung bekommen. Es war ein langer Weg bis zu diesem Schritt, und Opferanwältin Simona Reppenhagen sieht in dem Kampf der Holocaust-Opfer um eine Rente ein massives Versagen der Justiz, von der ersten bis zur letzten Instanz. Im Gespräch mit n-tv.de macht sie außerdem eine Behörde aus, die eine besonders problematische Rolle spielte - und sich nicht zuletzt ordentlich bereicherte.
Frau Reppenhagen, Sie kämpfen seit Jahren für die Renten von rund 3000 ehemaligen Ghetto-Arbeitern. Das Kabinett in Berlin hat nun einen Gesetzenwurf zu Ghetto-Renten vorgelegt, wonach tausende jüdische Überlebende mit einer Rentennachzahlung rechnen dürfen. Sind Sie zufrieden?
Der Gesetzentwurf als solcher ist wunderbar - mit einer einzigen Ausnahme. Nach Paragraf 4 sollen nun Renten nur unmittelbar an die Berechtigten ausgezahlt werden. Das heißt, die Nachzahlung geht nicht mehr erst an den Anwalt, der dann die Honorarforderungen abzieht, sondern vielmehr direkt an die ehemaligen Ghetto-Arbeiter. Diese sollen dann ihren Anwalt bezahlen, was für einen 80- oder 90-Jährigen schon eine Zumutung ist. Die Anwälte müssen die Holocaust-Opfer nun mit ihren Honorarforderungen belasten. Es ist ein echtes Unding.
Es hat über 50 Jahre gedauert, bis Ghetto-Arbeiter überhaupt eine Rente bekamen. Woran lag das?
In den Entschädigungszahlungen, die in den 50er, 60er Jahren durchgeführt waren, gab es eine Entschädigung für Schäden an Eigentum, an Freiheit, an Gesundheit und beruflichem Fortkommen. Man hat sozusagen die Zeit der Verfolgung als Schaden an Freiheit entschädigt. Aber die Arbeit in den Ghettos auch sozialversicherungsrechtlich zu beleuchten, daran hat man einfach nicht gedacht.
Erst nach Jahrzehnten änderte sich dies.
Auslöser war ein Urteil des Bundessozialgerichts von 1997. Damals stellten die Richter fest, dass die im Ghetto Lodz geleistete Arbeit eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit war, die einen Rentenanspruch begründet. Das Ghetto Lodz gehörte damals zum eingegliederten Gebiet des Deutschen Reiches. Danach zog ich dann vor das Bundessozialgericht mit dem Verfahren einer Klägerin, die in einem Ghetto in einem besetzten Gebiet gearbeitet hatte. Da sagten dann die Richter in 2001 plötzlich: "Für die besetzten Gebiete gelten die dortigen Rechtsvorschriften. Dafür gibt es hier kein Rentengesetz, dementsprechend auch keinen Rentenanspruch." Das änderte sich erst 2002, als der Bundestag das Gesetz zur Ghetto-Rente, das sogenannte ZRBG, erließ. In diesem hieß es dann, dass alle Ghetto-Arbeiter eine Rente aus ihrer im Ghetto geleisteten Tätigkeit ab Juli 1997 bekommen sollen.
Und wie sah das Prozedere dann aus?
Alles lief wunderbar, bis es Mitte 2004 plötzlich zu einer Ablehnungsquote von knapp 95 Prozent kam. Federführend war dabei die Deutsche Rentenversicherung Rheinland. Die DRV Rheinland ist zuständig für Israel und hat maßgeblich bei allen Rentenversicherungsträgern die restriktive Ablehnungpraxis begründet und gefördert. Und die Sozialgerichtsrechtsprechung insbesondere in NRW hat die Ablehnungen der DRV Rheinland nahezu immer bestätigt. Wer als Richter diese nicht bestätigte, war dann plötzlich nicht mehr zuständig für Ghetto-Rentenverfahren. Dabei gab es ganz viele historische Gutachten und juristische Auslegungen, die für die Betroffenen sprachen. Aber bis 2009 wurden diese Tatsachen sowohl von den Rentenversicherungsträgern als auch von den Gerichten besonders in Nordrhein-Westfalen ignoriert. Einfach ignoriert.
Wie erklären Sie sich dieses restriktive Verhalten der DRV Rheinland?
Ich will nicht mit dieser Antisemitismuskeule kommen, aber die DRV Rheinland ist dem Personenkreis gegenüber, dem die Renten zukommen sollten, nicht sehr wohlwollend eingestellt. Sagen wir es mal so.
Wollten die Rentenversicherungsträger auch Geld sparen?

Die Rechtsanwältin Simona Reppenhagen kämpft seit Jahren für die Renten von Tausenden Ghetto-Arbeitern.
(Foto: Privat)
Auf jeden Fall. Auch als 2009 das Bundessozialgericht die restriktive Ablehnungsspraxis für falsch erklärt hat, hat sich die Deutsche Rentenversicherung ja noch weiter bereichert. Zwar bekamen durch das Urteil von 2009 nun deutlich mehr Antragsteller, die zuvor rechtskräftig abgelehnt worden waren, eine Rente zugesprochen, aber nur rückwirkend für vier Jahre und nicht bis Juli 1997, wie es das Ghetto-Gesetz vorsieht. Das bedeutete: Siebeneinhalb Jahre Rentennachzahlung für die t ausenden abgelehnten ehemaligen Ghetto-Arbeiter blieben bei der Deutschen Rentenversicherung. Und dann fragt man sich: Warum? Warum bereichert sich die deutsche Rentenversicherung daran, dass sie rechtswidrig die Anträge zunächst abgelehnt hat und dann quasi dafür auch noch belohnt wird? Deshalb waren wir erneut 2012 beim Bundessozialgericht, wo ich mir eine Abfuhr eingefangen habe. Die Begründung lautete: Dass Rentenzahlungen nur vier Jahre rückwirkend bezahlt werden, steht halt so im Gesetz. Und das Gesetz gelte für jeden und alle. Gleichwohl gibt es eine besondere Entschädigungsrechtsprechung, die besagt, dass man bei den NS-Verfolgten ein Gesetz so weit als irgend möglich auch systemfremd auslegen darf, wenn der Wiedergutmachungszweck damit erreicht wird.
Hat die Gesetzgebung geschlampt?
Der Gesetzgeber hat zunächst gar nichts gemacht. Auch als ich dann bis zum Bundesverfassungsgericht ging, blieb er untätig. Das Bundesverfassungsgericht hat dann nach 14 Monaten ohne Begründung entschieden, dass es die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung annehmen wird. Danach habe ich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Individualbeschwerden erhoben. Die sind immer noch anhängig.
Und in der Zwischenzeit sterben immer mehr ehemalige Ghetto-Bewohner.
Sie sterben leider jeden Tag. Nach einer Schätzung der DRV sind ungefähr 7000 mittlerweile erbenlos verstorben. Auch daran hat sich die deutsche Rentenversicherung bereits bereichert. Dann gibt es zahllose, ich glaube bis zu 30.000 Ghetto-Überlebende, die nicht anwaltlich vertreten sind, und deren Anträge bisher immer noch abgelehnt sind. Jetzt frage ich mich natürlich: Was macht die Behörde damit? Ganz abgesehen davon, dass man sich in diesem Zusammenhang auch die Frage stellen muss: Wo sind denn eigentlich die Versicherungsbeiträge der ungefähr drei Millionen ermordeten erwerbstätigen Juden geblieben? In der Sozialversicherung, in der deutschen Rentenversicherung? Und allein der Umstand, dass die Nachzahlung für Ghetto-Renten erst ab Juli 1997 gilt und nicht ab dem 65. Lebensjahr, ist auch noch einmal eine Bereicherung.
Ist das ganze Hickhack um die Rentenauszahlung auch ein Spiel auf Zeit?
Ein bisschen schon. Und es zeigt sich, dass die deutsche Justiz massiv versagt hat. Ganz massiv versagt, und zwar von der ersten bis zur allerhöchsten Instanz. Dass ein Bundesverfassungsgericht 14 Monate auf Verfassungsbeschwerden von hochbetagten Holocaustopfern sitzt, um diese dann nicht zur Entscheidung anzunehmen, wie soll ich das bezeichnen? Auf wessen Kosten geht das?
Immerhin hat die Bundesregierung jetzt gehandelt.
Vielleicht kam ihr die Bereicherung der Rentenkasse nun doch schon unanständig vor. Doch gab es in der Politik auch lange kein Gehör dafür, dass etwas schiefläuft. Über Jahre wurde die Problematik verdrängt, vielleicht wurde sie auch nicht scharf genug von den entsprechenden Instanzen vorgetragen.
Das neue Ghetto-Rentengesetz ist das eine, das andere die Ausführung. Manche fürchten, dass die Verwaltung noch Mittel und Wege ersinnt, um hier Sand ins Getriebe zu streuen. Teilen Sie diese Sorge?
Diese Sorge kann man immer haben. Besonders wenn man sieht, wie die Prozedur bisher abgelaufen ist.
Mit Simona Reppenhagen sprach Gudula Hörr
Quelle: ntv.de