Pogrom-Stimmung in Ägypten Christen fürchten um ihr Leben
16.08.2013, 17:22 Uhr
Eine in Brand gesetzte Kirche in Al-Minya rund 250 Kilometer südöstlich von Kairo.
(Foto: dpa)
Seit Tagen entlädt sich in Ägypten die aufgestaute Wut. Säkulare Muslime und Muslimbrüder kämpfen sich bis aufs Blut, doch auch die christliche Minderheit ist ihres Lebens nicht mehr sicher. Kirchen stehen in Flammen, Geschäfte werden geplündert.
In den Tagen des Aufruhrs bangt Ägyptens christliche Minderheit wieder um Leib und Leben. Als die Sicherheitskräfte am Mittwoch die Protestlager in Kairo mit brutaler Gewalt räumten, entlud sich die Wut der Islamisten auch gegen Kopten und anderen christlichen Gemeinden am Nil. Kirchen brannten, Geschäfte wurden geplündert und selbst in ihren Woh nungen sollen Christen vor Anhängern des entmachteten Präsidenten Mohammed Mursi nicht mehr sicher gewesen sein. Betroffene schildern eine Pogrom-Stimmung.
"Die Menschen sind entsetzt, keiner traut sich aus dem Haus", sagt Marco aus der zentralägyptischen Stadt Sohag. Sohag sei eine Geisterstadt, sagt der 27-jährige Ingenieur. In den bekannten koptischen Nachbarschaften werde von den Angreifern eine "Atmosphäre des Schreckens" verbreitet. Mehrere Kirchen seien angezündet worden, später hätten sich die Islamisten auch Privathäuser vorgenommen.
Die koptische Jugendorganisation Maspero Youth Union dokumentiert die Übergriffe seit langem. "Kopten wurden in neun Gouvernoraten angegriffen", listet Maspero nach den jüngsten Unruhen auf. Ihr einziges "Verbrechen" sei, dass sie Christen seien. Laut der Nichtregierungsorganisation Ägyptische Initiative für Persönlichkeitsrechte (EIPR) wurden am Mittwoch und Donnerstag insgesamt mindestens 25 Kirchen in Brand gesetzt. In zehn der 27 Provinzen des Landes seien auch christliche Schulen, Läden und Häuser attackiert worden.
Schon früher Angriffe auf Kopten
Bereits unter Mursi habe es immer wieder Übergriffe gegeben, heißt es bei Maspero. Die Anhänger Mursis werfen den Christen vor, den 2011 entmachteten Staatschef Husni Mubarak unterstützt zu habe - wobei die Glaubensminderheit auch schon damals regelmäßig Ziel von religiös motivierten Übergriffen von Islamisten war. Dass Koptenpapst Tawadros II. die Absetzung Mursis durch das Militär am 3. Juli unterstützte, stachelt den Zorn seiner Anhänger aber nochmals an.
Christen machen etwa zehn Prozent der ägyptischen Bevölkerung aus. Und nicht nur die Kopten sind im Visier der Islamisten. Aus dem irakischen Kirkuk meldete sich der chaldäisch-katholische Erzbischof Louis Sako zu Wort: "Das ist eine wirkliche Katastrophe. " Die Region sei ein "gefährlicher Vulkan". Nach Angaben des Patriarchen wurde am Mittwoch auch eine chaldäische Kirche angezündet.
Die vom Militär eingesetzte Interimsregierung bezeichnete die Angriffe als "rote Linie". Auf weitere Attacken werde mit einer "konsequenten Antwort" reagiert. Verteidigungsminister Abdel Fattah al-Sisi kündigte gar an, das Militär werde für die Wiederherstellung der beschädigten Kirchen aufkommen. Und Regierungschef Hasem Beblawi traf sich demonstrativ mit Patriarch Tawadros II., dem er seine Solidarität bekundete. Nach Berichten der amtlichen Nachrichtenagentur Mena wurden 80 Mursi-Anhänger wegen mutmaßlicher Übergriffe auf Kirchen in der Stadt Suez festgenommen.
Angesichts der entfesselten Mursi-Anhänger verurteilte auch die Muslimbruderschaft - politische Heimat des entmachteten Präsidenten - die Attacken über den Kurznachrichtendienst Twitter. Nicht ohne jedoch noch einmal auf die Rolle "einiger koptischer Führer" hinzuweisen, die den Sturz Mursis unterstützt hätten. Muslimbrüder-Sprecher Gehad al-Haddad gab aber die eigentliche Schuld der Regierung.
"Diskurs des Hasses" im Land
Auch EIPR-Vertreter Ischak Ibrahim sieht die Regierung in der Pflicht. Diese sei nicht imstande, die "Bevölkerung zu beschützen". Die aktuellen Ausbrüche hätten ihre tieferen Wurzeln in einem "Diskurs des Hasses" im ganzen Land, der mehr von den ultrakonservativen Salafisten als von Muslimbrüdern geführt werde. Außerdem seien die meisten Übergriffe nicht in den Städten mit einer hohen Präsenz an Sicherheitskräften verübt worden, sondern abseits, wo Christen ungeschützt seien. Familien seien "zu verängstigt", um sich mit Lebensmitteln zu versorgen. "Sie warten auf konkrete Schritte", sagt Ibrahim.
Etwa in Sohag: Einwohner zitterten vor dem was kommen könnte, sagt Karem, ein weiterer Bewohner der Stadt. Die Behörden müssten Sicherheitskräfte schicken: "Niemand schützt uns."n.
Quelle: ntv.de, rpe/dpa