Vierte Welle ohne Plan Déjà-vu der Sündenböcke
14.11.2021, 15:44 Uhr
Wo steht Deutschland in der vierten Welle?
(Foto: picture alliance/dpa)
Statt angesichts der vierten Corona-Welle konsequent zu handeln, rennen hierzulande wieder alle kopflos durch die Gegend. Währenddessen sucht die Politik neue Sündenböcke, weil sie den Sommer für die Pandemiebekämpfung wieder verschlafen hat. Andere Länder zeigen, wie es besser geht.
Ich komme eben aus Portugal zurück. Da sind die Fakten klar: 98 Prozent der über Zwölfährigen sind geimpft. Aber die Menschen zwischen Porto und Albufeira haben sich nicht den Piks verpassen lassen, weil sie etwas für die Gesellschaft tun wollten, sollten, mussten.
Nein, sie haben es getan, weil der Schreck so groß war nach diesem furchtbaren Winter 2021, als die Krankenwagen Schlange standen vorm Hospital in Lissabon und die Alten in diesen Wagen erstickten, weil es keine freien Betten gab. Niemand musste hier Geimpfte und Ungeimpfte trennen, niemand hat Teile der Gesellschaft gegeneinander ausgespielt - es war nicht nötig. Die Impfkampagne wurde einem General übertragen, der tat, was nötig war. Und die Bürger folgten: Alle eilten zur Impfung. Auch nach dem Ende der ersten Kampagne blieben die Impfzentren geöffnet: Derzeit wird geboostert, nebenan Grippe geimpft - es ist nicht dieses Hin und Her von Auf und Zu wie zwischen Berlin und Berchtesgaden. Das Ergebnis in Portugal: Ein Sommer und ein Herbst der Sorglosigkeit - was für ein schönes Wort und nicht wie hierzulande ein Kampfbegriff für Gedankenlosigkeit - weil die Inzidenz bei 30 lag. Jetzt steigt sie zwar wieder leicht, aber Impfdurchbrüche sind selten und die Verläufe nur leicht. So geht es.
Was so schön daran ist: Niemand redet an der Algarve über Corona. Niemand streitet darüber. Niemand verharmlost, niemand beschwichtigt, niemand gerät in Panik. Es ist einfach kein Thema. Weil agiert wurde, nicht lamentiert.
Genau wie in Frankreich. Da begegnete mir Corona im Herbst nur noch drei-, viermal am Tag. Immer dann, wenn ich meinen Pass Sanitaire auf dem Handy vorzeigen musste, um am Tresen einen Café zu trinken oder abends ein Steak frites zu essen. Impfpass auf, vorzeigen, der Kellner checkt den QR-Code - fertig. Ab dann war nur noch die Qualität des Weines Thema, nicht mehr Corona.
Macrons Entscheidung, eine Impfpflicht einzuführen, quasi über Nacht, klang hart, war aber richtig. Und die befürchtete Flucht der Pflegerinnen und Pfleger aus dem Beruf blieb aus, stattdessen eilten die Leute in die Impfzentren. Es zählt Mut dazu, in schweren Zeiten Entscheidungen zu treffen. Mut. Wo ist er? Dieser deutsche Mut?
Wo stehen wir in Deutschland?
Wir leben in einem Land, in dem wochenlang über jedes einzelne Element der Pandemiebekämpfung diskutiert wird: über PCR-Tests, über Masken, über Impfungen für Pflegepersonal, über Geisterspiele im Fußball, es wird gestritten, abgewogen, rumgeeiert - um dann am Ende aber jedes Mal die falsche Entscheidung zu treffen, so scheint mir. Und zwar unter erlesener Mithilfe der Bürgerinnen und Bürger. Die einfach nicht mehr wissen, wem sie glauben sollen, wem sie vertrauen können, weil es einfach eine endlose Kakophonie ist. Am Ende sitzt immer Karl Lauterbach in irgendeiner Talkshow, erzählt irgendwas von einer Phase-1-Studie, in der Kinder Pandemietreiber sind - und alle Virologen sitzen da und können nur den Kopf schütteln, weil es längst zig andere Studien gibt, die ganz andere Sachen sagen und dann wollen Leute ernsthaft, dass so ein Mann Gesundheitsminister wird?
Woanders ist Mut, hier ist Unmut. Wo stehen wir denn, fünf Wochen vor Weihnachten? Ich jedenfalls habe ein Déjà-vu. Welle 4 und alle geraten schon wieder in Panik. Politik, Medien, Bürger: Kopflos heißt es seit Tagen: "Die vierte Welle - schlimmer als jede zuvor - Überlastung der Intensivstationen droht - Kommt bald die Triage?" Es ist, als würde ich mir Überschriften aus dem März 2020 ansehen. Oder aus dem November 2020. Oder dem Februar 2021. Diesmal ist alles aber noch schlimmer, heißt es. Aber wie kommt man denn darauf?
Die schrecklichsten Vorhersagen in Welle eins, zwei und drei sind nicht eingetreten, und zwar nicht, weil die Politik so toll handelte, sondern weil die Bürger zuerst reagierten, Kontakte einschränkten, Oma nicht mehr besuchten. Ja, es gab volle Intensivstationen, natürlich wurden Menschen in andere Krankenhäuser geflogen. Und doch scheint es mir, all die Panikrufer waren noch nie auf einer Intensivstation, weder zu noch vor Corona. Ich war sehr oft dort. Als meine Mama lange vor Corona ein Bett brauchte, waren die ebenfalls knapp, weil die Stationen immer voll sind. Seit vielen Jahren geht das so, das hat wenig bis gar nichts mit der Pandemie zu tun. Sondern mit einem Zustand, den wieder die Politik zu verantworten hat, in ganz Europa: Es ist die Folge von Fehlentscheidungen, von Sparzwängen, von Kapitalisierungsdruck, der die Krankenhäuser zu Gelddruckmaschinen gemacht hat, auf dem Rücken der Patienten und der Angestellten.
Neue Sündenböcke finden
Aber natürlich ist das ein guter Weg, neue Sündenböcke auszumachen. Nun sind es also die Ungeimpften, die dafür sorgen, dass die Pandemie nicht endet. Leider ist das purer Unfug. Eine Herdenimmunität kann es durch die Impfung nicht geben, weil zu viele Gruppen nicht einbezogen werden können. Deshalb ist nach allem Medizin-Ethos die Corona-Impfung nur dafür da, den Einzelnen zu schützen - nicht die Gesellschaft.
Wenn der Einzelne sich dagegen entscheidet - aufgrund schlechter Kommunikation, Stichwort Astrazeneca, aufgrund Angst vor Nebenwirkungen, aufgrund was auch immer - dann ist das sein gutes Recht. Wenn er dann auf der Intensivstation landet, dann ist es sein Risiko. Aber sind wir wirklich schon so weit gekommen, einem Umgeimpften vorzuwerfen, er würde dann einem anderen Kranken das Bett wegnehmen? Wer kommt denn auf so einen Quatsch?
Doch so geht es seit Beginn der Pandemie: Es gibt Sündenböcke. Erst waren es die Gastarbeiter vom Balkan, die laut Söder Corona im Gepäck hatten. Dann die Mallorca-Urlauber, die sorglos in den vermeintlichen Hotspot gereist sind - ohne jede Folgen. Die Diskussion verpuffte einfach, da waren die Leute noch nicht mal wieder im Flieger zurück. Nun sind es die Umgeimpften. Ewig diskutiert Deutschland über diese Menschen, sucht sich genüsslich Daumenschrauben: Grenzen zu - Testpflicht für Reiserückkehrer - 2G - Impfpflicht.
Politik wird aus der Verantwortung entlassen
Es ist nicht auszuhalten - denn die Bürger machen mit und entlassen mit diesen Sündenbock-Diskussionen jene aus der Verantwortung, die dieses Land regieren. Die schon wieder den Sommer nicht genutzt haben, um den Schulen Luftfilter zu verpassen. Die eine ordentliche Organisation der Booster-Impfung schlicht verpennt haben. Die das Altenheim meiner Oma schon wieder nicht geschützt haben - es scheint, alles hierzulande ist längst Eigenverantwortung.
Doch auf eines ist in Deutschland Verlass. Am Ende aller Diskussionen steht immer eine Maßnahme: nämlich jene, dass Kinder in der Schule Masken tragen müssen. Zählt man die Eingriffe in der Pandemie zusammen, ist das die Gruppe, die zuerst, zuletzt und mittendrin leiden muss.
Stellen Sie sich das vor: Ich durfte letzte Woche fünf Stunden im Zwei-Sterne-Restaurant sitzen, elf Gänge essen und muss nicht mal meine Maske auf dem Weg aufs Klo aufsetzen. Sechsjährige Kinder aber, die sich an die Regeln halten, aus Angst vor einer Krankheit, die sie kaum treffen wird, und aus Respekt vor der Lehrerin, tragen die Maske im Unterricht, am Platz, auf dem Gang und später im Hort. Macht zehn Stunden am Tag. Ohne Einschränkungen. Und ohne einen wesentlichen Einfluss auf die Pandemie.
Das ist Versagen. Doch daran sind all jene schuld, die Sündenböcke suchen, statt die Regierenden in die Verantwortung zu nehmen. Ich muss es ehrlich sagen: Deutschland, derzeit verstehe ich Dich nicht.
Quelle: ntv.de