Kaschmir-Konflikt Der Feind ist hundert Meter entfernt
22.05.2002, 14:00 UhrOberst Nauman Saeed ist bereit zu kämpfen. Sein Feind ist knapp hundert Meter entfernt, in Bunkern, die sich an die bewaldeten Hügel schmiegen: Indien. Die Konfrontation pakistanischer und indischer Soldaten entlang der Grenze in Kaschmir ist Jahrzehnte alt. Aber nie zuvor war die Situation gefährlicher, sagt Saeed.
In seiner Tarnuniform lehnt der pakistanische Offizier an einer Wand aus Sandsäcken und blickt durch ein Fernglas in Richtung Grenze. "Da drüben, bei zwölf Uhr, was aussieht wie ein Müllhaufen, das ist ein indischer Bunker. Dort, bei drei Uhr, zwischen den Bäumen noch ein Bunker. Und weiter oben, wieder bei zwölf Uhr, was aussieht wie eine Steinmauer, das ist keine." Durch ein winziges Loch in der Mauer, kaum sichtbar, ragt der graue Lauf eines Gewehres - ein weiterer indischer Bunker.
Pakistan und Indien haben seit der Unabhängigkeit von Großbritannien vor 55 Jahren drei Kriege geführt, zwei davon um die geteilte Himalaja-Region Kaschmir. Doch alle drei Kriege fielen in eine Zeit, als die beiden verfeindeten Nachbarstaaten noch nicht im Besitz von Atomwaffen waren.
Neu-Delhi wirft Pakistan vor, die in Kaschmir gegen Indien kämpfenden Rebellen zu finanzieren und auszubilden. Islamabad weist die Anschuldigungen zurück. Die islamischen Extremisten bezeichnet Pakistan als Freiheitskämpfer. Auslöser der jüngsten Spannungen war der Anschlag auf das Parlament in Neu-Delhi am 13. Dezember, für den Indien muslimische Rebellen und damit Pakistan verantwortlich machte. Beide Länder verlegten Truppen an die gemeinsame Grenze - derzeit sind dort rund eine Million Soldaten stationiert.
Ein Angriff auf ein Armeelager im indischen Teil Kaschmirs, bei dem am Dienstag vergangener Woche 34 Menschen getötet worden waren, heizte die Situation weiter an. Indien wies erneut Pakistan die Schuld zu und erklärte, militärische Reaktionen seien nicht ausgeschlossen.
Fehlendes Vertrauen
Das grundlegende Problem des indisch-pakistanischen Konflikts sei fehlendes Vertrauen auf beiden Seiten, sagte der pakistanische Politiker Mohammed Yusuf, ein früherer Brigadegeneral. Die USA und Europa sollten die Nachbarstaaten dazu bringen, ein Klima des Vertrauens zu entwickeln und umsichtig zu handeln. "Die beiden Seiten müssen sich für den Dialog, nicht für die Konfrontation entscheiden", sagt Yusuf und warnt angesichts des indischen und pakistanischen Atomwaffenpotenzials vor "einer nuklearen Konfrontation".
"Krieg kann nicht kontrolliert werden"
Solche Befürchtungen sind nach Einschätzung des pakistanischen Offiziers Saeed sehr wohl begründet. "Die militärische Option ist möglich", sagt Saeed. Und wenn es zu einem Krieg komme, dann sei dies ein Krieg zwischen zwei Atommächen. "Sobald ein Krieg ausgebrochen ist, hat er seine eigene Dynamik. Er kann nicht kontrolliert werden", warnt Saeed.
Der Streit um Kaschmir sei kein Gebietskonflikt, sondern ein religiös-ideologischer Konflikt, sagt Saeed. Die meisten Inder sind Hindus, während die pakistanische Bevölkerung fast ausschließlich muslimisch ist. Saeed wirft den indischen Soldaten vor, muslimische Zivilisten zu töten und zu misshandeln. Er zeigt auf den Fluss Jhelum, der von Indien nach Pakistan fließt. "Wir ziehen dort Leichen heraus, verstümmelte Leichen, muslimische Leichen", sagt Saeed und legt seine Hand auf Herz. "Das schmerzt hier."
von Kathy Gannon, AP
Quelle: ntv.de