EU auf dem Weg ins Neuland Der Krisenmechanismus kommt
29.10.2010, 16:33 UhrBundeskanzlerin Merkel sieht den EU-Gipfel als Erfolg, jetzt aber harte Verhandlungen auf die Gemeinschaft zukommen. Ein Krisenmechanismus soll bis Dezember verabredet werden. Merkels automatischer Stimmrechtsentzug ist zwar noch nicht vom Tisch, aber auf der langen Bank.

Merkel kann sich zumindest anrechnen lassen, wesentliche Entscheidungen angeschoben zu haben.
(Foto: dpa)
Nach der Einigung auf eine kleine Änderung des EU-Vertrages sieht Bundeskanzlerin Angela Merkel "harte Arbeit" auf die EU-Partner zukommen. Die EU betrete nun "absolutes Neuland", sagte die Kanzlerin am Ende des zweitägigen Gipfeltreffens in Brüssel.
Der Gipfel stellte die Weichen dafür, künftig erstmals private Gläubiger wie Banken und Fonds in die Bewältigung von Schuldenkrisen wie in Griechenland einzubeziehen. Dies war eine der beiden zentralen Forderungen Deutschlands an den Gipfel. Ziel ist es, einen "dauerhaften Krisenmechanismus" zu verankern und damit den Euro vor den Auswirkungen künftiger Schuldenkrisen zu schützen.
Ratspräsident Herman Van Rompuy wurde beauftragt, eine begrenzte Änderung des EU-Vertrages in Gesprächen mit den EU-Partnern auszuloten und bis zum nächsten Treffen im Dezember Ergebnisse vorzulegen. Damit stehen Europa knapp ein Jahr nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages erneut langwierige Verhandlungen bevor.
Pläne schon in der Schublade
Das Bundesfinanzministerium hat bereits Pläne für einen ständigen Krisenmechanismus in der Schublade. Nach Angaben eines Regierungsmitarbeiters bestehen mögliche Elemente des Konzepts in einer Verlängerung der Laufzeit der Schulden oder einer Umschuldung. Bis spätestens Mitte 2013 soll die Vertragsänderung unter Dach und Fach sein - dann laufen die Milliarden-Rettungsschirme für Griechenland und andere Euro-Staaten aus.
Die Kanzlerin sah durch die Gipfelergebnisse den Euro gestärkt. "Wir können den Menschen sagen: Unser Geld, der Euro, wird insgesamt sicherer", sagte sie. Der Gipfel beschloss auch eine Verschärfung des Stabilitätspaktes. Van Rompuy sagte, die EU habe "einen soliden Pakt zur Stärkung des Euro geschmiedet".
Künftig sollen Sanktionen bereits greifen, wenn sich ein Euro-Land in Richtung eines übermäßigen Defizits von mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) bewegt. Zudem soll es neue Geldstrafen geben. Mit Rücksicht auf Frankreich verzichtete Deutschland auf "automatische" Strafen gegen Defizitsünder. Damit wird weiterhin im Ministerrat über Sanktionen entschieden - der aber Strafen bisher nie verhängte.
Stimmrechtsentzug auf der langen Bank
Einen Rückschlag gab es für Merkel in der Frage der Stimmrechte. Der von ihr geforderte automatische Stimmrechtsentzug für notorische Defizitsünder, mit dem diese zu einer strikteren Haushaltsdisziplin gezwungen werden sollen, wurde mit breiter Front abgelehnt. Er hätte ohnehin nur einstimmig verabschiedet werden können - die Opposition in Berlin hatte daher kritisiert, Merkel habe mit ihrer vehement vorgetragenen Forderung ohne Not die anderen EU-Länder gegen sich aufgebracht.
Offiziell ist die Frage des Stimmrechtsentzugs noch offen. Der luxemburgische Regierungschef Jean-Claude Juncker sagte dazu: "Wir sind sehr zufrieden, dass das Thema nicht mehr auf dem Tisch liegt, sondern auf der langen Bank." Van Rompuy kündigte an, dem Gipfel demnächst über Möglichkeiten für einen Stimmrechtsentzug berichten zu wollen. "Das wird aber nicht im Dezember der Fall sein", sagte er.
Steinmeier sieht "Scheitern auf Raten"
SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier warf der Bundesregierung Schönfärberei der Ergebnisse des EU-Gipfels vor. Es werde nicht gelingen, das Treffen in einen Sieg für Merkel umzudeuten. Vielmehr offenbare sich "ein Scheitern auf Raten". Von Merkels Forderung nach einem Stimmrechtsentzug sei nichts als ein Prüfauftrag übriggeblieben. Mögliche kleinere Änderungen des EU-Vertrags bedeuteten nur Gesichtswahrung für Merkel.
Merkel selbst räumte ein, dass die Verhandlungen "streckenweise sehr hart" waren. Der Krisenmechanismus ist für Merkel auch deshalb so wichtig, weil sie bei der nächsten Euro-Krise nicht wieder vor den Bundestag treten will, um für Milliarden-Rettungspakete zu werben, für die letztlich der Steuerzahler geradestehen muss. Zudem droht ein Stoppschild des Bundesverfassungsgerichts, das immer neue "einmalige Notfälle" nicht akzeptieren dürfte.
Der Grünen-Fraktionsvorsitzende Jürgen Trittin sagte, Merkel und Sarkozy hätten die Kraftprobe gesucht und verloren. Regelmäßig fahre Merkel mit Forderungen nach Brüssel, die nicht realisierbar seien. "Dann kehrt sie mit dem Gegenteil zurück und erklärt dies zu ihrem eigenen Verdienst." Dabei hinterlasse sie viel verbrannte Erde. Linksparteichefin Gesine Lötzsch sagte: "Die Kanzlerin ist mit ihrer Kopf-durch-die-Wand-Politik gescheitert." Sie sprach von einem Gipfel der Hilflosigkeit.
Quelle: ntv.de, hvo/AFP/dpa