Politik

Timoschenkos leiser Abgang Der blonde Stolperstein

Der Glanz vergangener Tage: Julia Timoschenko als ukrainische Regierungschefin mit traditionellem Haarkranz

Der Glanz vergangener Tage: Julia Timoschenko als ukrainische Regierungschefin mit traditionellem Haarkranz

(Foto: picture alliance / dpa)

Julia Timoschenko, der gefallene Engel der "Orangenen Revolution", sitzt seit zwei Jahren wegen Amtsmissbrauchs im Gefängnis. Weil die EU ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine anstrebt, kommt nun Bewegung in die Sache: Timoschenko soll offenbar freigelassen werden. Mit Rechtsstaatlichkeit hat das politische Geschachere hinter den Kulissen wenig zu tun.

"Alle wollen mit ihr schlafen, aber geheiratet wird nicht", hat der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow einmal über sein Heimatland gesagt. Viel passender kann man die Situation des Flächenstaates an der osteuropäischen Peripherie wohl kaum beschreiben: Seit dem Ende der Sowjetunion ist die Ukraine hin- und hergerissen zwischen der traditionellen Anbindung an den großen russischen Bruder und den wirtschaftlichen Verheißungen der EU. Bis im November 2004 urplötzlich Julia Timoschenko aus der Versenkung auftauchte und mit ihrer "Orangenen Revolution" nicht nur die Bevölkerung, sondern vor allem auch westliche Politiker und Medien in ihren Bann zog. Der blonden Schönheit mit dem traditionellen Haarkranz, die sich als moderne Jeanne d'Arc gerierte und versprach, die Ukraine aus dem Korruptionssumpf der Post-Sowjetära zu führen und in eine lupenreine Demokratie zu verwandeln, wollte man ja auch einfach glauben.

Fast eine Dekade und diverse Skandale, dubiose Gasgeschäfte und merkwürdige Regierungsrochaden später dürfte selbst dem größten Timoschenko-Fan klar geworden sein, dass auch blonde Engel einen Schatten werfen. Vor gut zwei Jahren wurde die ehemalige Regierungschefin wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilt - und obwohl der Prozess durchaus als politisch motiviert gelten darf, haben die laufenden Ermittlungen gezeigt, dass die Vorwürfe gegen Timoschenko mehr als begründet sind: Es geht um gewaltige Summen, welche die 52-Jährige in ihrer Zeit als Chefin des staatseigenen Gaskonzerns EESU in den 90er Jahren in ihre eigene Tasche abgezweigt hat - mehr als 405 Millionen US-Dollar soll Timoschenko der Ukraine schulden.

Blut an Timoschenkos Händen?

Das alles dürfte eigentlich hierzulande kein Problem sein, wenn denn nicht wie so oft höhere Interessen im Spiel wären: Schon seit mehreren Jahren will die EU ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine auf den Weg bringen, um unter anderem eine Freihandelszone zu etablieren. "Besonders die Modernisierung unserer Wirtschaft und die Erschließung eine Marktes mit einer Kapazität von 46 Millionen Menschen, die immer noch unzureichend versorgt sind, macht die Ukraine doch zu einem wahnsinnig attraktiven Standort für Investoren", brachte der ukrainische Regierungschef Mykola Asarow jüngst im Gespräch mit der französischen Zeitung "Le Nouvel Économiste" die europäischen Interessen auf den Punkt.

Timoschenko gerierte sich 2004 als moderne Jeanne d'Arc - ihr wollte man einfach glauben.

Timoschenko gerierte sich 2004 als moderne Jeanne d'Arc - ihr wollte man einfach glauben.

(Foto: picture alliance / dpa)

Die EU, ansonsten eher zögerlich, wenn es darum geht, sich in die Belange dritter Staaten einzumischen - Menschenrechtsverletzungen in China und Russland stören ja auch nicht weiter, solange es ums Geschäft geht - hat nun also ein Problem: Das Abkommen wäre ein ideales Mittel, um die krisengeschüttelte Wirtsch aft wieder anzukurbeln. Eine der Bedingungen für einen Abschluss ist allerdings die Freilassung Timoschenkos. Die aber ist in der Ukraine nicht nur wegen des Amtsmissbrauchs rechtskräftig verurteilt, seit dem vergangenen Jahr strengt die Staatsanwaltschaft auch noch einen Mordprozess gegen die charismatische Blondine an: Timoschenko soll bei der Ermordung Jewgeni Schtscherbans ihre Finger im Spiel gehabt haben. 1996 war der Geschäftsmann aus der Industriehochburg Donezk am örtlichen Flughafen erschossen worden, mit ihm seine Frau und zwei Bordmechaniker seines Privatjets. Etwa drei Millionen Dollar soll das elfköpfige Killerkommando als Blutgeld erhalten haben - die Spur des Geldes führt bis zu der 52-Jährigen.

Rechtsstaatlichkeit eher Auslegungssache

Was also tun mit dieser plötzlich so lästigen Revoluzzerin? Obwohl Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine ohnehin wohl eher Auslegungssache ist, würde eine Freilassung Timoschenkos die Willkür des Systems nur noch stärker ins Rampenlicht rücken - das kann sich Präsident Wiktor Janukowitsch nicht leisten. Zum Glück für Ukraine und EU scheint es eine Lösung zu geben, bei der beide Seiten ihr Gesicht wahren können: Timoschenkos Bandscheibenvorfall. Seit mehr als einem Jahr laboriert die in ihrem Heimatland als "Gasprinzessin" bekannt gewordene Politikerin schon an der Krankheit, die bei ihr offensichtlich deutlich drastischer verläuft als normalerweise üblich - anders ist das Gewese um ihre Bandscheiben kaum zu erklären. Sogar aus der Berliner Charité flog im vergangenen Jahr regelmäßig ein Ärzteteam ein, um Timoschenko zu behandeln.

Nach einer längeren Pause waren die Spezialisten um Charité-Chef Karl Max Einhäupl am 21. Juni wieder einmal in Charkow, um sich den Heilungsfortschritt anzuschauen - und berichteten Schockierendes: Timoschenkos ohnehin schon kritischer Zustand könne in der Invalidität enden, falls sie nicht möglichst rasch operiert werde, ließ Einhäupl über eine Pressesprecherin verbreiten.

Wo diese Behandlung stattfinden sollte oder könnte, sagte Einhäupl nicht. Das tat stattdessen die polnische Zeitung "Gazeta Wyborcza" in ihrer Online-Ausgabe: Sie meldete, dass Timoschenko am 15. September ausreisen würde, um sich an der Berliner Charité operieren zu lassen. Genährt wurde die Spekulation auch vom polnischen Altpräsidenten Aleksander Kwasniewski, dem Ukraine-Emissär des EU-Parlaments. Gegenüber Polskie Radio hatte er erklärt, es bestehe "eine Chance, dass Timoschenko vor Ende September zur medizinischen Behandlung ins Ausland ausreisen darf".

An den letzten Funken Macht klammern

Hinter vorgehaltener Hand raunte man in Kiew, USA-Botschafter John Tefft und Brüssels Abgesandter Jan Tombinski hätten mit den Verantwortlichen in der Ukraine gedealt. Bei Timoschenkos Freilassung würde das bereits am 30. März 2012 parafierte und seither auf Eis liegende Assoziierungsabkommen endlich unterzeichnet werden. Die Zeichen deuten also darauf hin, dass der ukrainische Präsident Janukowitsch dem Druck nachgeben wird, um mit einer "humanitären Geste" den Weg seines Landes nach Westeuropa zu ebnen.

Allerdings scheinen die Entscheider beider Lager ihre Rechnung wieder einmal ohne Timoschenko gemacht zu haben: Anstatt den Freischein aus dem Gefängnis anzunehmen und über Los in ihr neues Leben zu starten, klammert sich die Politikerin offensichtlich mit aller Kraft an die letzten Funken ihrer Macht und weigert sich, Janukowitsch um die Ausreise zu bitten.

Den Hintergrund dafür erklärt ein gut informierter ukrainischer Journalist, der lieber unerkannt bleiben möchte, so: "Wenn man so will, ist Julias Ausreise eine Falle. In Deutschland wird man ihr Leiden bald auskuriert haben, dann hat sie zwei Möglichkeiten: Geht sie zurück in die Ukraine, landet sie sofort wieder im Gefängnis. Bleibt sie im Exil, wird man ihr nachsagen, dass sie sich vor der Verantwortung drückt und sie verliert auch noch den letzten Rest ihrer politischen Macht - wer Julia kennt, weiß, dass sie lieber im Knast vermodert als in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden."

Quelle: ntv.de

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