Politik

Kommunalwahlen in NRW "Die Lage ist wirklich dramatisch"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Arbeitslosigkeit, Leerstand und vor allem Schulden sind Probleme, die Städten wie Oberhausen die Luft abschnüren.

Arbeitslosigkeit, Leerstand und vor allem Schulden sind Probleme, die Städten wie Oberhausen die Luft abschnüren.

(Foto: IMAGO/Funke Foto Services)

Am kommenden Wochenende wählen die Menschen in Nordrhein-Westfalen neue Bürgermeister und Stadträte. In manchen Gegenden werden die nicht viel gegen immense Probleme ausrichten können, sagt Experte Henrik Scheller. Er forscht am Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin, das Städte und Gemeinden berät. Er sieht Bund und Länder in der Pflicht, verschuldeten Städten zu helfen.

ntv.de: Herr Scheller, am Wochenende sind Kommunalwahlen in NRW - wie geht es den Kommunen im Bundesland?

Henrik Scheller: Den Kommunen geht es sehr schlecht. Die Lage ist wirklich dramatisch. Im vergangenen Jahr hatten wir deutschlandweit das höchste Finanzierungsdefizit der Kommunen überhaupt. Die Ausgaben lagen 24,3 Milliarden Euro über den Einnahmen. Im Ländervergleich steht Nordrhein-Westfalen noch schlechter da als andere Bundesländer. Dort befinden sich die Städte mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung. Mühlheim und Oberhausen sind da seit Jahren die traurigen Spitzenreiter mit zuletzt rund 10.000 Euro Schulden pro Einwohner. Aber die Schulden steigen in ganz NRW. Nur noch 16 von den 427 Kommunen haben überhaupt Überschüsse erwirtschaftet. Und die Prognosen für die kommenden Jahre sehen auch nicht gut aus.

Warum haben Städte wie Oberhausen und Mülheim so hohe Schulden?

Dr. Henrik Scheller leitet am privaten Deutschen Institut für Urbanistik den Bereich Infrastruktur, Wirtschaft und Finanzen.

Dr. Henrik Scheller leitet am privaten Deutschen Institut für Urbanistik den Bereich Infrastruktur, Wirtschaft und Finanzen.

(Foto: DIFU / David Ausserhofer)

Das hat historische Gründe. Die Städte im Ruhrgebiet haben einen tiefgreifenden Strukturwandel nach dem Ende des Kohlebergbaus und dem Verlust anderer Industriezweige durchlaufen. Daraus konnten sie sich nie richtig herausarbeiten. Die Bedingungen vor Ort führen zu sich selbst verstärkenden Effekten.

Was passiert da genau?

Viele Menschen werden arbeitslos, rutschen in die Sozialsysteme. Wenn die Kommunen keine adäquaten Unternehmen neu ansiedeln, bleiben sie dauerhaft in einem Krisenmodus hängen. Die Sozialausgaben steigen und steigen. Bis sie die städtischen Haushalte derart dominieren, dass Investitionen kaum noch möglich sind . Kommunen müssen sich dann auf das Nötigste beschränken. Gestaltungsspielräume, um ihre Stadt attraktiver zu machen, bestehen de facto nicht. So geraten sie in eine Negativspirale. Andere Kollegen haben das einmal als "Vergeblichkeitsfalle" bezeichnet, aus der die Kommunen gar nicht mehr selber herauskommen.

Was meinen Sie mit der Vergeblichkeitsfalle?

Das ist dieser Kreislauf aus steigenden Sozialausgaben, wirtschaftlicher Schwäche und mangelnden Investitionen. Menschen wandern dann nicht selten ab, weil sie dort nicht mehr leben wollen. Im Zusammenwirken mit dem demographischen Wandel fehlen dann aber wiederum zunehmend Arbeitskräfte. Unternehmen finden keinen Nachwuchs und mehr und mehr Wohnungen, aber auch Gewerbeflächen stehen leer, etwa in den Innenstädten.

Schulden werden also zu einer schweren Hypothek.

Das ist definitiv so. Die Städte haben im sozialen Bereich sogenannte Pflichtaufgaben. Die müssen sie erbringen. Deshalb sind die Haushalte so belastet. Investitionen zählen dagegen meist zu den freiwilligen Aufgaben, solange es nicht um Dinge wie etwa die Wasserversorgung oder Schulen geht. Also wird da gespart. Sporthallen, Schwimmbäder oder Kultureinrichtungen müssen im schlimmsten Fall geschlossen werden – insbesondere, wenn sie ohnehin marode sind. Dadurch werden die Städte jedoch noch unattraktiver.

Klingt frustrierend.

In den Haushalten gibt es einen enorm hohen Bindungsgrad der Mittel. Oberhausen gibt praktisch sein gesamtes Geld für Pflichtleistungen aus. Eigene Gestaltungsspielräume gibt es de facto nicht mehr.

Wie kommt man da heraus? Vermutlich geht es nur mit Hilfen von Land und Bund?

Genau. Um aus dieser Vergeblichkeitsfalle herauszukommen, brauchen wir eine Altschuldenlösung. Diese Kommunen müssen entschuldet werden. Das steht an erster Stelle. So werden Mittel frei, die jetzt für Zinsen und Schulden aufgewendet werden müssen. Werden die Schulden aufs Land übertragen, erhalten die Städte neue Gestaltungsspielräume.

Was könnte der Bund tun?

Da geht es vor allem um die Sozialleistungen. In den vergangenen Jahren gab es da einen massiven Aufgabenzuwachs für die Kommunen aufgrund der Gesetzgebung des Bundes. Da reden wir beispielsweise über die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung, aber auch die Jugend- und Sozialhilfe. Diese Leistungen haben sich in den vergangenen zehn Jahren zum Teil mehr als verdoppelt. Hier muss der Bund einen deutlich höheren Anteil der Kosten übernehmen , weil er die Leistungen beschlossen hat. Gleichzeitig müssen wir die zum Teil extrem komplizierten Finanzierungsströme bei diesen Leistungen deutlich vereinfachen, um auch so Geld zu sparen.

Gibt es bereits politische Bemühungen, um auf diesen Baustellen etwas zu verändern?

Tatsächlich hat NRW in diesem Sommer eine Altschuldenlösung auf den parlamentarischen Weg gebracht. Allerdings wurde hier sehr viel Zeit vertan. So soll bis 2055 die Pro-Kopf-Verschuldung der besonders hoch verschuldeten Kommunen auf 1500 Euro abgesenkt werden. Das ist ein sehr weiter Weg, wenn Sie bedenken, dass Oberhausen eine Pro-Kopf-Verschuldung von über 9000 Euro hat. Dafür nimmt sich das Land 30 Jahre Zeit. Jetzt gerade wachsen die Schulden aber schon wieder stark an.

Warum?

Wegen der schwächelnden Wirtschaft. Dadurch sinken die Steuereinnahmen und die Sozialausgaben steigen weiter. Ich befürchte, dass die Verschuldung sogar schneller steigt als die Entschuldung.

Nun sollen Länder und Kommunen 100 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen Infrastruktur und Klimaneutralität des Bundes bekommen. Wäre die Entschuldung nicht viel wichtiger?

Beide Maßnahmen ergänzen sich. Aber beide Instrumente sind zu klein angesetzt. Sie werden aller Voraussicht nach nicht den nötigen „Wumms“ für einen Befreiungsschlag entfalten. Dafür ist der Investitionsrückstand zu groß. In ganz Deutschland lag er bei den Kommunen im vergangenen Jahr bei 215 Milliarden Euro. Aus dem Sondervermögen kommen etwa 21 Milliarden Euro nach Nordrhein-Westfalen, über zwölf Jahre verteilt. Wenn davon 10 Milliarden an fast 427 Kommunen gehen, bleibt da für die einzelnen Städte und Kreise nicht viel übrig. Damit lassen sich gut verschiedene Einzelmaßnahmen, wie etwa einzelne Brücken, Straßen oder Schwimmbäder, instand setzen. Für einen gesamthaft-strategischen Ansatz reicht das jedoch nicht. Da werden die bereitgestellten Summen nur ein Tropfen auf den heißen Stein bilden.

Ist die AfD überall da stark, wo die Schulden hoch sind?

Das wäre mir zu pauschal formuliert. Das müsste man sich im Einzelnen anschauen. Sie ist sicherlich dort stark, wo diese finanzielle Gemengelange besonders schlecht ist – also wo es viele Sozialhilfeempfänger gibt, nicht genug investiert wird und die Schulden hoch sind.

Das klang jetzt alles ziemlich düster. Sehen Sie auch Lichtblicke?

Natürlich gibt es in NRW auch ganz andere Regionen. In Ostwestfalen-Lippe oder Städten wie Düsseldorf oder Münster ist die Finanzlage deutlich günstiger. Dort gibt es mehr Unternehmen, viele Arbeitsplätze. Aber auch in Düsseldorf sind die Schulden zuletzt sehr stark gestiegen – allerdings auf einem sehr viel niedrigeren Niveau. Insofern ist das in solchen Städten besser verkraftbar. Denn sie sind in einer deutlich komfortableren Situation als die Städte, die seit Jahren und Jahrzehnten schon hoch verschuldet sind.

Am Wochenende wählen die Menschen in NRW neue Kommunalvertreter. Aber die wirklich wichtigen Aufgaben können die gar nicht anpacken?

Das ist leider ein Stückweit so. Wir haben in den Städten einfach riesige Aufgaben vor uns, ohne dass die Kommunen immer über die entsprechenden Kompetenzen verfügen. Denken Sie an die Sozialausgaben. Da sind die Kommunen nur die ausführende Ebene. Sie müssen hier vor allem Leistungen auszahlen. Sie bekommen dafür in Teilen eine Kompensation, aber auch diese Ausgaben steigen. So fehlt es beispielsweise an einem Inflationsausgleich. Oder nehmen Sie den Investitionsbooster, den der Bund vor der Sommerpause beschlossen hat. Da geht es um 30 Milliarden Euro Steuerentlastungen, von denen vor allem die Unternehmen profitieren. Allerdings müssen die Kommunen hier mit hohen Steuerausfällen leben. Eine Kompensation hat der Bund zugesagt. Aber wird die ausreichen? Das wird man sehen.

Mit Henrik Scheller sprach Volker Petersen

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen