Politik

Polens Angst vor Abwanderung "Die Oder ist kein Rio Grande"

Deutschland öffnet am 1. Mai seinen Arbeitsmarkt. In Polen warten viele auf diesen Moment. Experten warnen vor den negativen Folgen einer massenhaften Abwanderung. Doch Polens Regierung beruhigt: Ein "Migrationsschock" drohe nicht.

"Das Ziel ist Deutschland": Polen hat Angst vor einer Ausweisewelle. Am 1. Mai wird der deutsche Arbeitsmarkt geöffnet.

"Das Ziel ist Deutschland": Polen hat Angst vor einer Ausweisewelle. Am 1. Mai wird der deutsche Arbeitsmarkt geöffnet.

(Foto: picture-alliance / dpa/dpaweb)

Jahrelang hat Polen eine schnelle Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes gefordert und seinen westlichen EU-Partner für die Blockade der Freizügigkeit scharf kritisiert. Deutsche Politiker, die auf Gefahren einer früheren Aufhebung der Sperre auch für Polen hinwiesen, wurden an der Weichsel als egoistische Heuchler beschimpft. Doch nun, knapp vier Monate vor dem 1. Mai 2011, an dem fast alle Schranken wegfallen sollen, wächst langsam auch in Polen Angst vor den Folgen einer weiteren Ausreisewelle.

"Polen ist das Mexiko Europas", sagt Krystyna Iglicka vom Institut für Internationale Beziehungen (CSM) in Warschau. Die Expertin für Gesellschaftsdemografie verweist darauf, dass das mitteleuropäische Land seit Jahrhunderten als Arbeitskräftereservoir für Europa und Amerika dient. Und sie sieht bei ihren Landsleuten derzeit wieder einen starken Drang zur Migration.

Vieles spricht für Deutschland als Ausreiseziel

"Das Ziel ist Deutschland", sagt Iglicka und verweist auf die geografische Nähe. Der deutsch-polnische Grenzfluss, die Oder, sei kein zweiter Rio Grande wie zwischen den USA und Mexiko und tauge nicht zum Hindernis, so die CSM-Wissenschaftlerin.

Auch andere Gründe sprechen aus polnischer Sicht für Deutschland als Ausreiseziel: Zum einen die guten Verdienstmöglichkeiten - das polnische Durchschnittseinkommen liegt derzeit bei rund 3500 Zloty oder umgerechnet 875 Euro im Monat. Oder ein Netzwerk von Bekannten und Verwandten, die zum Beispiel am Rhein bereits Fuß gefasst haben. Trotz aller Einschränkungen arbeiteten 2009 westlich der Oder legal bereits mehr als 400.000 Polen: Als Saison- oder Zeitarbeiter oder als Selbstständige.

Die Arbeitsmarkt-Praktiker bestätigen die Einschätzung der Wissenschaftler. Artur Ragan von der privaten Arbeitsagentur Work Express in Katowice (Kattowitz) stellt neuerdings bei seinen Kunden wachsendes Interesse an einem Arbeitsplatz in Deutschland fest. Die Bewerber wollten am liebsten gleich am 1. Mai starten, weil sie später mit mehr Konkurrenz rechneten, sagt Ragan. Gefragt seien Bauberufe und Pflegekräfte, auch Elektromechaniker haben nach seinen Worten gute Chancen.

"Willkommen und an die Arbeit"

Mit ihren Berichten über Deutschland als Arbeiter-Paradies beflügeln polnische Medien die Fantasie der Ausreisewilligen noch zusätzlich. "Polen! Willkommen und an die Arbeit", hieß es etwa in der Warschauer Gratis-Zeitung "METRO". Dem Bericht zufolge wollen deutsche Unternehmer den Gastarbeitern aus Polen sogar Begrüßungsgeld zahlen.

"In Deutschland gibt es Arbeit für 300.000 Polen", titelte unlängst "Dziennik Gazeta Prawna". Auf zwei Seiten stellte das Blatt ausführlich vor allem die Vorteile des deutschen Sozialsystems dar. Von dem in Deutschland gezahlten Kinder- oder Arbeitslosengeld können die Arbeitnehmer in Polen nur träumen.

Wenn es nach dem 1. Mai tatsächlich zur Massenauswanderung kommt, rechnen Iglicka und ihre Kollegen mit schlimmeren Folgen für ihr Land als nach Polens EU-Beitritt im Jahr 2004. Damals waren zwei Millionen Polen vor allem nach Großbritannien und Irland gegangen - Länder, die als erste ihre Märkte für osteuropäische Arbeitskräften öffneten. Damals steckte Polen jedoch tief in der Krise, die Arbeitslosenrate lag über der Rekordmarke von 20 Prozent. Ausgereist seien vor allem Menschen, die damals in ihrer Heimat niemand brauchte, so Iglicka.

Der hohe Preis der Migration

Heute gilt Polen als eine Insel der Stabilität in Europa, mit einem Wachstum von mehr als drei Prozent. Die Arbeitslosenzahl konnte fast halbiert werden. Wenn Facharbeiter jetzt weggehen, drohen den Unternehmern Engpässe und Pleiten. Der dauernde Verlust von Humankapital sei gefährlich für die Abwanderungsregionen, meint Migrationsforscherin Krystyna Romaniszyn. Polens Status als "halbperipheres EU-Mitglied" werde dadurch verfestigt, warnt sie.

Auch die Gesellschaft muss einen hohen Preis für die Migration zahlen. Ins Ausland wandern vor allem junge, hochmotivierte und gut ausgebildete Menschen aus - sie fehlen dann in Polen, das ähnlich wie Deutschland schnell altert. Rasch steigende Scheidungsraten sowie die wachsende Zahl der "Euro-Waisen" - Kinder, die ohne Eltern nur von Oma oder Tante betreut aufwachsen - sind Anzeichen für zerfallene Familien.

Das Arbeitsministerium in Warschau versucht, die Gemüter zu beruhigen. Es gebe - nicht zuletzt wegen der guten Wirtschaftssituation - keine Anzeichen für eine verstärkte Ausreisewelle nach Deutschland. Die Beamten verweisen auf das bisher - trotz seit Jahren bestehender Erleichterungen - geringe Interesse polnischer Computer-Spezialisten und Ingenieuren an Arbeit in Deutschland. Es werde keinen "Migrationschock" geben, sagt ein Ministeriumssprecher.

Ein Mittel gegen Arbeitskräfteknappheit

Wenn sich das schwarze Szenario doch als treffend erweisen sollte, sieht Iglicka nur noch ein Mittel gegen die Arbeitskräfteknappheit. Polen müsse sich auf ausländische Arbeiter - Ukrainer, Weißrussen oder Chinesen öffnen. "Das ist extrem unpopulär, aber notwendig."

Quelle: ntv.de, Jacek Lepiarz, dpa

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