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Besuch an der Front Die ukrainischen Soldaten kämpfen nicht, sie "arbeiten"

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Ukrainische Soldaten in Slowjansk. Die Stadt liegt rund 50 Kilometer nordwestlich von Bachmut.

Ukrainische Soldaten in Slowjansk. Die Stadt liegt rund 50 Kilometer nordwestlich von Bachmut.

(Foto: picture alliance / Anadolu)

Als die ukrainischen Soldaten hören, dass die Deutschen sich am meisten für die Stimmung in der Ukraine interessieren, müssen sie lachen. Und Kolja empört sich, dass er in ein Sanatorium im Wald geschickt wurde.

Viele Fenster sind verrammelt, vor allem die in den Geschäftspassagen. Am Horizont flackert rotes Licht, man hört das "Bumm, Bumm" der russischen und der ukrainischen Artillerie. Es ist Ende Dezember, ich bin nach Slowjansk in der Region Donezk gefahren, um Neujahr mit Freunden dort zu verbringen.

Die Front ist nicht weit. Mein Freund Jura kommt von der Arbeit - er birgt verletzte Soldaten und bringt sie ins Krankenhaus. Aus irgendwelchen bürokratischen Gründen hat er selbst derzeit keine Krankenversicherung, und für einige Tage sogar keinen Vertrag mit dem Militär. Wenn ihm jetzt "etwas zustoßen" würde, wenn er, Gott bewahre, zum "200er" würde, würden seine Kinder keine Entschädigung bekommen. "200" ist der alte sowjetische Militärcode für Getötete, der in der Ukraine noch immer gebräuchlich ist. Verletzte laufen unter "300".

Auch im Krieg gelten die Gesetze. Jura erzählt von einem Fall, in dem ein Fahrer vom Militär von der Polizei mit einer Strafe belegt wurde, weil an seinem Fahrzeug das Nummernschild fehlte. Es war durch Schüsse auf sein Auto verloren gegangen. Ein Verstoß gegen die Verkehrsordnung ist es trotzdem.

"Der Krieg dauert, solange in Moskau nichts Entscheidendes passiert"

Juras Kommandeur kennt den Fall. "Wo ist die Grenze zwischen Front und Stadt, wo soll die Macht des Gesetzes enden? Wollen wir illegale Autos ohne Nummern auf den Straßen haben?" Dass der Fahrer wirklich eine Strafe zahlen musste, glaubt er aber nicht.

Jura könnte sich weigern, jetzt zu den vorderen Positionen zu fahren. Aber er sagt, der Respekt, der ihm dort von seinen Kameraden gezollt wird, entschädige ihn für das Risiko. Er hat wie alle Kämpfer schon etliche Prellungen und Gehirnerschütterungen erlitten und wurde inzwischen sogar als Invalide eingestuft, doch er will weiterkämpfen - solange es nötig sei, mehrere Jahre noch, da macht er sich keine Illusionen. "Solange in Moskau nichts Entscheidendes passiert, wird der Krieg andauern."

Für seinen Dienst an der Front wurde er mit dem höchsten Orden der Nationalgarde ausgezeichnet. Sein Heimatdorf ist nur 60 Kilometer entfernt. Jura will nicht, dass ein Burjate in sein Haus kommt, so sagt er. Am wichtigsten ist ihm, dass seine Kinder in Sicherheit sind. Sein Sohn absolviert derzeit ein Auslandssemester in London, seine Tochter lebt inzwischen in der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk.

Wer leben will, raucht besser nicht

Ins neue Jahr feiern wir zusammen. Es ist ein unglaubliches Glück, dass wir uns überhaupt treffen können, dass all die Männer noch leben, die ich bei einem Besuch im letzten Sommer kennengelernt habe. Inzwischen haben sie in den Höllen von Kupjansk und Bachmut gekämpft. Sie sagen nicht "kämpfen", sondern nennen es "arbeiten", ohne Pathos, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Schießen ist Arbeit. Verletzte und "200er" bergen ist Arbeit.

Zur Vorbereitung auf die Arbeit gehört, dass man wenig isst, am besten gar nichts, erzählen sie. Denn nach dem Essen muss man bekanntlich irgendwann eine Notdurft verrichten, und das ist an ihren Arbeitsplätzen gefährlich. Rauchen darf man dort natürlich auch nicht. "Willst du leben, rauchst du besser nicht." Das Glühen der Zigaretten wäre weit zu sehen und von Scharfschützen oder Drohnen zu erkennen.

Scherzhaft bezeichnet sich die Gruppe als Okkupanten. Sie haben ein zweistöckiges Industriegebäude "okkupiert", entmüllt und bewohnbar hergerichtet. Der Besitzer war ein russlandfreundlicher "Watnik", das erkannten sie an den Aufklebern an seinem Kühlschrank, denn die waren alle aus russischen Städten. Mittlerweile würden Jura und seine Kameraden bestimmt einen Wettbewerb über die sauberste Armeestube an der Front gewinnen: Vor den Betten liegen Teppiche, sie haben Tischdecken aufgelegt, die Schuhe werden ordentlich am Eingang abgestellt, mehrmals am Tag wird der Boden gefegt. Auch eine Banja haben sie gebaut, in der wir mit Vergnügen schwitzen.

Selbst die Natur hat ihre Unschuld verloren

Von ihrer Basis aus fahren sie zu den befohlenen Positionen an der Front, der Nulllinie, wie sie im Militärjargon genannt wird. Anfangs hatten sie für diese Fahrten nur einen Moskwitsch, einen Pkw aus Sowjetzeiten. Inzwischen steht auf dem Hof ein mehrere Millionen Dollar teurer türkischer Truppentransporter mit dicken Stahlwänden und einem Cockpit, das an ein Flugzeug erinnert, mit Sensoren, die Radioaktivität und chemische Kampfstoffe messen. Auch am Neujahrsmorgen fährt Jura damit zur Arbeit.

Auch der Heimatort seines Mitkämpfers Kolja ist nicht weit entfernt, dennoch war dieser vor knapp einem Jahr zum letzten Mal im Urlaub. Kolja redet nicht viel, aber er deutet an, dass es ihm schwerfällt, Urlaub zu machen, weil er die Rückkehr fürchtet. Außerdem werde er hier gebraucht. Nicht einmal die Spezialisten verstünden die Bedürfnisse der Soldaten, sagt er und schimpft auf die Psychologen, mit denen er in einer Reha zu tun hatte.

Ich verstehe nicht, was er meint. "Wir sollten uns erholen, aber das Sanatorium ist im Wald", empört Kolja sich. In einem Wald habe er auch gekämpft. "Ich liebe die Natur, aber jetzt ist sie nicht mehr unschuldig. Wenn die Zweige knacken, prüfe ich, ob es ein Feind ist. Der Wind rauscht, die Bäume knarren, wie auch in den Pausen in dem Wald, in dem wir beschossen wurden." Als ich sage, das Sanatorium sollte dann besser an einem Ozean liegen, stimmt Kolja mir zu. Bei der Vorstellung, Seeluft einzuatmen, leuchten seine Augen.

Eine Mischung aus Apathie, Fatalismus und Sarkasmus

Jemand zeigt ein Video mit drei russischen Kriegsgefangenen, die mit verbundenen Augen ein glückliches neues Jahr wünschen und sich im Chor als Päderasten bezeichnen; bestimmt nicht freiwillig. Es ist offenkundig ein Verstoß gegen die Genfer Konventionen, aber in diesem Moment doch auch lustig anzusehen, zumal, wenn man bedenkt, wie die Russen gefangene Ukrainer foltern, auch Zivilisten. Die Ukrainer kommen nach einem Gefangenenaustausch abgemagert und traumatisiert nach Hause, die Russen gut genährt, gesund und nachdenklich. Sie haben keine Faschisten getroffen, man hat sie zumeist human behandelt und medizinisch betreut, sie wurden nicht geprügelt und nicht mit Elektroschocks zu Geständnissen gezwungen.

Die ukrainischen Kämpfer wollen von mir wissen, was die Deutschen über den Krieg denken, welche Frage sie am meisten interessiert. Ich antworte, dass sich die Deutschen am meisten für die Stimmung im Krieg interessieren. Das ist die häufigste Frage, die in Ukraine-Berichten erörtert wird. Meine Freunde zeigen dieselbe Reaktion wie alle Ukrainer, denen ich das erzähle: Sie lachen, fassen sich an den Kopf und fühlen sich auch verhöhnt.

In unserer Gruppe herrscht Bombenstimmung. Auf Radio Bayraktar laufen Songs wie "Driving Home for Christmas". Niemals schmeckte der Cognac so gut wie heute. Jeder Atemzug ist kostbar, denn es könnte der letzte sein. Vielleicht genießen wir das Leben noch intensiver als im Frieden. Wir genießen es sogar, als Maxim erzählt, wie zwei Meter neben ihm ein Geschoss einschlug und seinen Nebenmann tötete, wie er dann in den Wald hineinlief und überhaupt nicht begriff, wo und wer er war, bis er über einen getarnten Scharfschützen stolperte, der ihn im Lärm der Schüsse nicht kommen gehört hatte. "Jetzt lache ich über diesen Moment", sagt er, "damals habe ich natürlich nicht gelacht." Er ist dem Tod schon mehrfach von der Schippe gesprungen, mindestens das ist doch Grund für gute Laune. "Apathie, Fatalismus und Sarkasmus bilden im Krieg eine Gemengelage", erklärt Maxim.

Der Autor: Christoph Brumme lebt seit 2016 in der ukrainischen Stadt Poltawa. Er fuhr fast 30.000 Kilometer mit dem Fahrrad durch die Ukraine und ist Autor der Bücher "111 Gründe, die Ukraine zu lieben" und "Im Schatten des Krieges".

Quelle: ntv.de

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