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Klinik-Explosion in Gaza Ein israelischer Luftangriff ist nicht wahrscheinlich

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Tote gab es bei der Explosion an der Al-Ahli-Klinik zweifellos. Fraglich ist, ob es sich um einen gezielten Raketenangriff handelte.

Tote gab es bei der Explosion an der Al-Ahli-Klinik zweifellos. Fraglich ist, ob es sich um einen gezielten Raketenangriff handelte.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Explosion an einem Krankenhaus in Gaza-Stadt löst Wut und Empörung in muslimischen Ländern aus. Aber es gibt einige Fragezeichen: Warum steht das angeblich von Israel gezielt angegriffene Gebäude noch, warum gibt es keinen Krater? Und stimmt die Zahl der Toten?

Nach Berichten über die Zerstörung eines Krankenhauses in Gaza-Stadt werfen sich Palästinenser und die israelische Regierung gegenseitig vor, für den Tod Unschuldiger verantwortlich zu sein. Klar ist bislang vor allem, dass es an der Al-Ahli-Klinik zu einer Explosion kam und mutmaßlich viele Menschen ums Leben gekommen sind.

Doch schon bei der Zahl der Opfer fangen die Unsicherheiten an. Das von der Hamas geführte "Gesundheitsministerium" von Gaza erklärte zunächst, mindestens 500 Menschen seien bei einem israelischen Luftangriff auf das Krankenhaus getötet worden, am Mittwochnachmittag sprach es von mindestens 471 Toten. Arabische Medien wie der Sender Al-Dschasira übernahmen die Angaben der Terrorgruppe weitgehend vorbehaltlos: In einigen Artikeln ist davon die Rede, dass die Zahl der Todesopfer auf Angaben der Hamas beruhe. In anderen findet sich die Formulierung vom "tödlichen israelischen Luftangriff auf ein Gaza-Krankenhaus, der 500 Menschen tötete".

Israel weist Verantwortung Islamischem Dschihad zu

Die israelische Armee (IDF) bestreitet vehement, die Klinik beschossen zu haben. Armeesprecher Daniel Hagari sagte, verantwortlich für den Angriff sei der Islamische Dschihad, eine Terrorgruppe, die ebenfalls vom Gazastreifen aus operiert. Ihm zufolge liefen die Ereignisse so ab:

  • Um 18.15 Uhr habe die Hamas eine Vielzahl von Raketen auf Israel abgefeuert.
  • Um 18.59 Uhr habe der Islamische Dschihad ungefähr zehn Raketen von einem Friedhof in Gaza-Stadt abgefeuert.
  • Ungefähr zur gleichen Zeit habe es Berichte von einer Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus gegeben.
  • "Unseren Geheimdiensten zufolge prüfte die Hamas die Berichte, bemerkte, dass es sich um eine fehlgeleitete Rakete des Islamischen Dschihad handelte - und beschloss, eine weltweite Medienkampagne zu starten, um zu verschleiern, was wirklich passierte", so Hagari. Auch die Zahl der Opfer sei übertrieben worden.

Zudem veröffentlichte die IDF eine Aufnahme, die ein abgehörtes Gespräch zwischen Hamas-Mitgliedern darstellen soll - ob das Audio authentisch ist, ist nicht überprüfbar. Darin sagt eine Stimme, man habe zum ersten Mal eine Rakete auf diese Weise fallen sehen. Und weiter: "Sie sagen, sie gehört dem Palästinensischen Islamischen Dschihad."

IDF-Sprecher Hagari sagte, Video-Aufnahmen würden zeigen, dass es keinen direkten Einschlag einer Rakete im Krankenhaus gegeben habe. Tatsächlich ist auffällig, dass auf Bildern zwar viele Tote zu sehen sind, das Krankenhaus selbst jedoch nicht eingestürzt ist. Ein Großteil der Schäden scheint durch Feuer entstanden zu sein. Was immer vom Himmel gefallen ist, traf in erster Linie einen Parkplatz, nicht das Krankenhaus selbst. Um einen gezielten Angriff auf die Klinik kann es sich daher nicht handeln.

Kein Krater

Hagari verweist weiterhin darauf, dass es keinen Krater gegeben habe. Der österreichische Militärexperte Markus Reisner bestätigt diese Darstellung im Gespräch mit ntv.de: Das Fehlen eines Kraters sowie die Tatsache, dass es an den umstehenden Gebäuden keine größeren Schäden gegeben habe, deute darauf, dass es sich nicht um einen Luftangriff gehandelt habe. Dies sehe nach israelischen Luftangriffen für gewöhnlich ganz anders aus. Auf einem Foto der Nachrichtenagentur Reuters ist ein mögliches Einschlagloch erkennbar. Als "Krater" kann man es allerdings nicht bezeichnen.

Aufnahme am Al-Ahli-Krankenhaus am Morgen nach der Explosion.

Aufnahme am Al-Ahli-Krankenhaus am Morgen nach der Explosion.

(Foto: REUTERS)

Auch Sergej Maier vom Verifizierungsteam von RTL und ntv kommt zu dem Schluss, dass ein Beschuss des Krankenhauses aus Israel ein unwahrscheinliches Szenario ist. Zugleich betont er, dies sei kein Beweis dafür, dass der Islamische Dschihad für die Explosion verantwortlich sei. Auf einem Video aus dem Livestream von Al-Dschasira könne man erkennen, wie eine Rakete startet, es dann einen Knall gibt und die Rakete fällt - offenbar auf das Krankenhaus. Anhand der Aufnahmen geht Sergej Maier davon aus, dass die Rakete in der Nähe des Krankenhauses abgefeuert wurde, und zwar in diesem Gebiet:

Aus diesem Gebiet im Gazastreifen dürfte die Rakete abgefeuert worden sein, die für die Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus sorgte.

Aus diesem Gebiet im Gazastreifen dürfte die Rakete abgefeuert worden sein, die für die Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus sorgte.

(Foto: Google Earth)

Unklar bleibt, was genau die Rakete von ihrer Flugbahn abgebracht hat. Das israelische Luftabwehrsystem Iron Dome war es vermutlich nicht: Dessen Geschütze fangen Raketen nicht in der Phase ihres Aufstiegs ab, sondern später. Zudem ist auf dem Livestream-Video kein zweiter Flugkörper erkennbar. Wahrscheinlicher ist daher ein technischer Defekt nach dem Start.

Zahl der Toten wahrscheinlich übertrieben

Der australische Militäranalyst Nathan Ruser hält nicht nur die Version eines israelischen Raketenangriffs, sondern auch die Zahl der Opfer mit 500 Toten für unwahrscheinlich. Auf X (früher Twitter) schreibt er, seine Einschätzung sei vorläufig. Ruser bezweifelt auch nicht, dass viele Menschen in dem Krankenhaus ums Leben gekommen sind, schätzt das von der Hamas verkündete Ausmaß im Vergleich zu anderen Explosionen mit vielen Toten aber als zu hoch ein.

Ruser geht es ausdrücklich nicht darum, die israelische Armee von allen Vorwürfen freizusprechen: "Nichts von alledem entlastet die IDF von den zahllosen Zivilisten, die sie bei ihren Luftangriffen getötet hat. Es gibt keine Entschuldigung für das Ausmaß an zivilen Opfern, das die IDF für akzeptabel hält, und auch nicht für die Belagerungstaktik. Und niemand kann das Ausmaß der Verwüstung des Gazastreifens leugnen. Aber es scheint mir sehr klar zu sein, dass ein Großteil der anfänglichen Berichterstattung und Diskussion über diese Explosion unzutreffend war. Der Diskurs und die Reaktionen haben die Fakten schnell überholt, und jetzt scheint es, dass die Fakten nicht wirklich wichtig sind."

Das Krankenhaus wurde beschädigt, aber nicht zerstört.

Das Krankenhaus wurde beschädigt, aber nicht zerstört.

(Foto: picture alliance/dpa)

Tatsächlich sind die politischen Folgen der Explosion sehr viel klarer als ihre Ursachen. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums sprach von einem "Akt der Entmenschlichung" und forderte Beweise von Israel und den USA, um die Schuldfrage zu klären. Der Iran forderte die Mitgliedstaaten der Organisation für Islamische Zusammenarbeit auf, Sanktionen gegen Israel zu verhängen. Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas sagte ein für den heutigen Mittwoch geplantes Treffen mit US-Präsident Joe Biden ab - Biden traf am Vormittag in Israel ein, das Treffen mit Abbas sollte in der jordanischen Hauptstadt Amman stattfinden. Auch der jordanische König Abdullah II. sowie Ägyptens Staatschef Abdel Fattah al-Sisi hätten daran teilnehmen sollen. In mehreren muslimischen Ländern kam es schon am Dienstagabend zu Protesten: in Teheran, in Beirut vor der US-Botschaft, in Ankara vor dem israelischen Konsulat. Im Westjordanland kam es zu Zusammenstößen zwischen der palästinensischen Polizei und Demonstranten, zudem wurde für das Gebiet ein Generalstreik ausgerufen.

Das Klinikgelände am Tag nach der Explosion: Ein Satellitenbild zeigt Brandspuren im Innenhof.

Das Klinikgelände am Tag nach der Explosion: Ein Satellitenbild zeigt Brandspuren im Innenhof.

(Foto: Satellite image ©2023 Maxar Technologies.)

Biden und Scholz fordern Fakten

Westliche Politiker waren zunächst vorsichtig mit Schuldzuweisungen und schienen auch eine israelische Verantwortung für die Toten in der Klinik nicht auszuschließen. Bundeskanzler Olaf Scholz twitterte auf Arabisch, er sei schockiert "über die Bilder, die wir von der Explosion in einem Krankenhaus in Gaza erhalten". Jetzt müssten alle Fakten offengelegt werden. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schrieb, nichts könne einen Angriff auf ein Krankenhaus rechtfertigen.

US-Präsident Biden zeigte sich "empört und zutiefst traurig über die Explosion im Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza". Er habe sein nationales Sicherheitsteam angewiesen, "Informationen darüber zu sammeln, was genau passiert ist". Nach seiner Ankunft in Tel Aviv schloss Biden sich der israelischen Darstellung an. Zum israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu sagte er in Anwesenheit von Journalisten: "Es sieht so aus, als ob das andere Team es getan hat, nicht Sie. Aber einige Leute sind sich nicht sicher." Später fügte er hinzu, seine Einschätzung, es sei "das andere Team" gewesen, basiere auf Daten des US-Verteidigungsministeriums.

Quelle: ntv.de

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