Grünen-Kritik an Hartz-IV-Berechnung "Ein schwerwiegender Verdacht"
29.09.2010, 12:19 UhrDie Grünen sehen Indizien, dass es bei der Berechnung der neuen Hartz-IV-Regelsätze Vorfestlegungen gab. Ihr Sozialexperte Kurth fordert im Interview mit n-tv.de eine Erhöhung auf 420 Euro. Vorwürfe der SPD, die Grünen seien die Partei der Oberschicht, hält Kurth für "Angstbeißerei". Hartz IV sei "ja keine exklusive Erfahrung der so genannten Deklassierten".

Markus Kurth ist sozialpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag.
n-tv.de: Im Bericht über die Höhe des Existenzminimums vom Dezember 2008 ging das Bundesfinanzministerium davon aus, dass der Hartz-IV-Regelsatz im Jahr 2010 bei 364 Euro pro Monat liegen wird. Auf genau diese Summe will die Bundesregierung den Satz jetzt erhöhen, nachdem sie angeblich ausführlich gerechnet hat. Zufall?
Markus Kurth: Es ist jedenfalls merkwürdig und lässt Spekulationen breiten Raum. Es gibt aber Indizien dafür, dass es tatsächlich eine Vorfestlegung gegeben hat - ob das auf Cent genau mit dem Bericht von 2008 zusammenhängt, kann ich nicht sagen. Es ist jedoch ein schwerwiegender Verdacht. Frau von der Leyen wäre gut beraten, alles zu tun, um den auszuräumen.
SPD und Grüne haben ziemlich empört auf die Erhöhung um 5 Euro reagiert. Aber Hartz IV ist von SPD und Grünen beschlossen worden. Ist die Empörung jetzt nicht ein bisschen unglaubwürdig?
Die Höhe des Regelsatzes haben wir als Grüne schon immer kritisiert. Das wurde damals im Wesentlichen vom Schmidt-Ministerium festgelegt …
… Ulla Schmidt war damals Ministerin für Gesundheit und soziale Sicherung ...
… und von der Bundesregierung auf dem Weg der Rechtsverordnung beschlossen. Das Parlament wurde damals ja gar nicht gefragt. Aber natürlich - wir waren in der Bundesregierung, ich will die Verantwortung gar nicht klein reden. Die Verantwortlichen im Kabinett haben Fehler gemacht und mussten dazu lernen.
Was sollte an Hartz IV verändert werden, wenn es heute nach den Grünen ginge?
Vor allem müsste die Rechtsstellung der Betroffenen gestärkt werden, die durch den vorliegenden Gesetzentwurf sogar noch geschwächt wird. In dem Getöse über die Regelsatzhöhe geht leider unter, dass künftig Sanktionen verhängt werden können, ohne dass es eine "Rechtsbehelfsbelehrung" gibt. Es gibt also keine schriftliche Vorwarnung mehr, dass eine Sanktion droht. Die so genannte Eingliederungsvereinbarung soll als Verwaltungsakt verhängt werden, ist also überhaupt keine Vereinbarung mehr. Wenn es nach uns ginge, müssten die Betroffenen mehr Selbstbestimmung bekommen, sie müssten mit entscheiden können, ob eine Qualifikation für sie sinnvoll ist oder nicht. Das zweite ist natürlich die Höhe des Regelsatzes.
Wie hoch müsste der Ihrer Meinung nach sein?
Nach dem, was wir an Berechnungen durch Dritte, insbesondere den Paritätischen Wohlfahrtsverband, vorliegen haben, müsste der bei 420 Euro liegen. Es gibt ja auch im Ministerium Stimmen, das sei das Ergebnis der ersten Berechnungsrunde gewesen.
Ist ein so hoher Satz ohne Mindestlohn durchsetzbar?
Bei Alleinstehenden wäre das Lohnabstandsgebot noch locker gewahrt, auch bei einer zweiköpfigen Bedarfsgemeinschaft. Problematisch wäre es erst ab drei und mehr Personen. Der Mindestlohn muss aber unabhängig von der Höhe des Regelsatzes sowieso her. Wenn die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die das Sozialministerium für die Berechnung angeblich zugrunde gelegt hat, wenn die eines zeigt, dann wie schlecht es denen schon heute geht und was der Niedriglohnsektor angerichtet hat.
Sigmar Gabriel hat die Grünen die Partei der gebildeten Oberschicht genannt, die Partei von Bionade und Latte Macchiato. Ist Hartz IV für Sie und für Ihre Wähler überhaupt ein Thema?
Das ist Angstbeißen, das ist völliger Quatsch. Von unseren Wählern sind viele in sozialen Berufen. Ich bin seit Jahren Sozialpolitiker und kriege das doch unmittelbar mit - bei Weiterbildungsträgern, Beschäftigungsträgern, in Job Centern. Da sind viele Leute, die das sehr stark mitnimmt und die auch sehr engagiert sind. Grünen-Wähler gibt es auch unter den Betroffenen. Hartz IV ist ja keine exklusive Erfahrung der so genannten Deklassierten. Nahezu jeder, der sein Studium abschließt heutzutage und nicht Ingenieurwissenschaften studiert hat, macht eine riskante berufliche Passage durch. Da gibt es nicht wenige, die das Job Center kennenlernen.
Die Grünen sind derzeit zwar nur an drei Landesregierungen mit geringer Stimmenzahl im Bundesrat beteiligt. Aber wie, denken Sie, sollten sich Ihre Parteifreunde verhalten: zustimmen oder ablehnen?
Erst mal müssen wir uns den Gesetzentwurf noch mal genau angucken und prüfen, ob er dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Wenn es keine substantielle Nachbesserung gibt, wäre meine Empfehlung, das Ganze abzulehnen bzw. in einer Koalitionsregierung, wo nichts anderes geht, sich im Bundesrat zu enthalten.
Mit Markus Kurth sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de