Klaus Ernst zur Agenda 2010 "Eine Katastrophe"
17.01.2011, 08:49 Uhr
Leiharbeit hat in Deutschland deutlich zugenommen.
(Foto: picture alliance / dpa)
Klaus Ernst ist Parteichef der Linken. Im Interview mit n-tv.de räumt er ein, dass die Agenda 2010 seiner Partei geholfen hat. Ansonsten kann er nicht viel Gutes finden an der Reform.
n-tv.de: Was hat sich in den sieben Agenda-Jahren in Deutschland geändert?
Klaus Ernst: Die Agenda 2010 war ein Lohnsenkungsprogramm. Das Ergebnis ist verheerend. Deutschland ist mit einem Reallohnminus von 4,5 Prozent seit 2000 Lohnsenkungsweltmeister. In der Folge kamen auch die Sozialversicherungen ins Wanken, die ja in Abhängigkeit von den Bruttolöhnen finanziert werden. Ein weiteres Ergebnis der Agenda 2010 sind sinkende Renten und Altersarmut. Die Schutzrechte der Arbeitnehmer wurden geschliffen. Bei den Unter-25-Jährigen haben 40 Prozent nur noch einen befristeten Job. Die können ihr Leben nicht mehr vernünftig planen und keine Familie gründen, weil sie nicht wissen, ob sie bald überhaupt noch eine Arbeit haben. Wir laufen zudem auf eine Million Leiharbeiter zu. Und das heißt, dass normale, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung durch Leiharbeit ersetzt wird. Arbeitsbedingungen und Lohn haben immer auch was mit der Würde der Menschen zu tun. Löhne, die selbst bei einem Vollzeitjob nicht zum Überleben reichen, sind einfach nicht hinnehmbar. Im Übrigen haben wir durch die Agenda 2010 enorme außenwirtschaftliche Verwerfungen. Aufgrund der sinkenden Löhne geraten alle Länder, mit denen wir Handel treiben, unter Druck. Fazit: Die Agenda 2010 war eine Katastrophe.
Inwieweit ist das Stigma des "Hartz-IV-lers" eigentlich noch loszuwerden, wenn man es einmal bekommen hat?
Es liegt in der Verantwortung aller, die Betroffenen nicht zu stigmatisieren. Das Problem ist das Hartz-IV-System. Dort müssen wir ansetzen. Hartz IV schadet der ganzen Gesellschaft. Die Situation der Menschen, die in dem System drin sind, die Gängelung durch die Ämter, die Offenlegung der Vermögen und der Lebensverhältnisse sind absolut unerträglich, aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, dass die Menschen inzwischen so viel Angst vor Hartz haben, dass sie bereit sind, fast alles zu akzeptieren: längere Arbeitszeiten ohne Bezahlung und Schikanen im Job.
War diese Angst vor dem Absturz Kalkül oder unvorhersehbares Nebenprodukt?
Das war ganz gezielt die Absicht der Agenda 2010. Die Bundesrepublik sollte durch niedrigere Löhne und Deregulierung der Arbeitsmärkte konkurrenzfähiger werden. Und das ist ja auch gelungen.
Gibt es etwas, das Sie positiv sehen an der Agenda 2010?
Nein, das gibt es nicht. Ich empfinde auch das als ungerecht, was immer als positiv dargestellt wird, nämlich die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Ich denke, man kann Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben und mit 53 oder 54 unverschuldet arbeitslos werden, nicht gleichstellen mit Menschen, die ihr Leben lang noch nicht gearbeitet haben. Das ist nicht gerecht sondern Gleichmacherei auf niedrigstem Niveau.
Wo sehen Sie die Schwächen im bürokratischen System bei den Jobcentern?
Es gibt einen enormen Spielraum für die Sacharbeiter – und der sorgt letztlich für eine Flut von Klagen. Und die Sachbearbeiter werden wiederum von oben unter Druck gesetzt, Geld einzusparen, was übersetzt heißt: den Betroffenen Leistungen vorenthalten. Es ist eben ein System der Willkür. Wir brauchen daher eine bedarfsorientierte Grundsicherung, die die Würde des Menschen sichert.
Die Agenda hat ja auch für erhebliche Veränderungen in der politischen Landschaft gesorgt. Wo stünde die Linke eigentlich ohne Hartz IV?
Hartz war sicher das, was das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Die rot-grüne Regierung hat ja nicht nur mit den Hartz-Gesetzen die Axt an den Sozialstaat gelegt. Im Gesundheitssystem sind wir abgerückt von der paritätischen Finanzierung, die Arbeitnehmer zahlen inzwischen mehr als die Arbeitgeber. Und das bei einer unerträglichen Zwei-Klassen-Medizin. Zudem hat Rot-Grün eine absolute Steuerungerechtigkeit hergestellt. Die Spitzensteuersätze wurden gesenkt, die Reichen besonders entlastet. Das Ergebnis war: Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander. Das war ein wichtiger Beschleunigungsfaktor für die Entstehung einer politischen Alternative.
Wenn Sie jetzt an der Regierung wären – was stünde auf Ihrer Agenda 2011?
Auf unserer Agenda 2011 stünden fünf Sofortmaßnahmen. Erstens würden wir vor dem 1. Mai einen gesetzlichen Mindestlohn einführen, um eine Lohndumpingwelle durch die Öffnung des Arbeitsmarkts nach Osten zu verhindern. Zweitens würden wir die Rente ab 67 zurücknehmen und die alte Rentenformel wieder einführen, damit es wieder gerechte Rentensteigerungen gibt. Drittens würden wir den Hartz-Regelsatz auf ein verfassungsgemäßes Niveau anheben und dann daran gehen, das unmenschliche Hartz-System durch eine bedarfsorientierte Grundsicherung zu ersetzen. Viertens würden wir ein Programm für mehr Steuergerechtigkeit auflegen, damit auch Reiche und Gutverdiener wieder zur Kasse gebeten werden. Dazu würde ein höherer Spitzensteuersatz bei gleichzeitiger Entlastung mittlerer und kleiner Einkommen, eine Millionärssteuer und eine Reform der Erbschaftssteuer gehören. Und fünftens würden wir Volksentscheide auf Bundesebene einführen, damit künftig nicht mehr Gesetze gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung verabschiedet werden können.
Quelle: ntv.de, Mit Klaus Ernst sprach Jochen Müter