Vertrag statt Verfassung Einigung auf EU-Gipfel
23.06.2007, 02:57 UhrIn einer Marathonsitzung haben sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf den Weg zu einem neuen Grundlagenvertrag als Ersatz für die gescheiterte Verfassung geeinigt. Europa löse sich aus der Erstarrung und gewinne mehr Handlungsfähigkeit, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Ende des von ihr geleiteten Gipfels. "Wir haben die Kompromissbereitschaft aller bis zum Ende ausgereizt", erklärte sie und verteidigte Zugeständnisse vor allem an Polen. Widerstand aus Warschau gegen die künftige Stimmgewichtung hatte die Verhandlungen zwischenzeitlich an den Rand des Scheiterns gebracht. Der Vertrag soll nun von einer Regierungskonferenz unter portugiesischem Vorsitz ausgehandelt und möglicherweise bereits auf dem Oktobergipfel beschlossen werden. Er soll der Union mit einem gestärkten Außenbeauftragten mehr Gewicht in der Welt verschaffen, weil dieser zugleich auch Vizepräsident der EU-Kommission wird. Die Grundrechtecharta wird rechtsverbindlich soweit sie EU-Angelegenheiten betrifft. Ein dauerhafter Vorsitzender der Staats- und Regierungschefs soll für mehr Kontinuität sorgen. Mit dem Vertrag würden auch die Voraussetzungen für die Aufnahmen neuer Mitglieder geschaffen.
Vertrag statt Verfassung
Merkel sagte, sie sei optimistisch, dass der Vertrag von allen 27 Staaten rechtzeitig ratifiziert werde, bevor er 2009 zur nächsten Europawahl in Kraft treten soll. Die EU-Verfassung war vor zwei Jahren in Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert. Der neue Vertrag soll nicht Verfassung heißen. Um Ängste vor einem europäischen Superstaat zu zerstreuen, wurden auch alle Symbole wie das Festschreiben von Flagge und Hymne Europas gestrichen. Merkel sagte, dennoch würden Beethovens Hymne weiter gespielt und die blauen Flaggen mit den zwölf goldenen Sternen weiter gehisst werden. "Die Verfassung war ein einfach verständlicher Vertrag", sagte Luxemburgs Regierungschef Jean-Claude Juncker. "Jetzt haben wir einen vereinfachten Vertrag, der sehr kompliziert ist."
Zustimmung aus Polen
Zum Durchbruch kam es, als Polen kurz vor Mitternacht einem Kompromiss über die Stimmgewichtung zustimmte. Vor dem Gipfel hatte Polen immer wieder mit einem Veto gedroht, um das stärker an der Bevölkerungsgröße ausgerichtete Abstimmungssystem aus der Verfassung zu verhindern. Merkel sagte, es bleibe bei dem von der Regierung in Warschau zunächst abgelehnten Prinzip der doppelten Mehrheit aus der EU-Verfassung. Dieses werde allerdings statt 2009 erst 2014 eingeführt. Zudem soll ein Land bis 2017 auch eine Abstimmung nach den derzeit geltenden Regeln verlangen können, wenn es damit eine Niederlage verhindern kann. Nach dem Prinzip der doppelten Mehrheit entscheiden die EU-Staaten im Ministerrat künftig mit einer Mehrheit aus 55 Prozent der Staaten und 65 Prozent der Bevölkerung.
Drohung von Merkel
Polen lenkte erst ein, als Merkel damit drohte, Detailverhandlungen über den neuen Vertrag auch ohne die Zustimmung des Landes zu beginnen. Nach Bemühungen des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und weiterer EU-Regierungschefs erklärte sich Polen, das einen Kompromissvorschlag zuvor noch abgelehnt hatte, dann zu neuen Verhandlungen bereit.
Ermutigendes Ergebnis
Immer wieder kam es zu Einzelgesprächen Merkels mit Polens Präsident Lech Kaczynski, der am Donnerstag auch auf das Leiden Polens im Zweiten Weltkrieg zur Untermauerung seiner Forderungen verwiesen hatte. Ein erster Kompromissvorschlag scheiterte; die zunächst ablehnende Haltung erfuhr der Gipfel dabei über einen Fernsehauftritt des Zwillings des Präsidenten, Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski, der in Warschau mit der Regierung beriet. Nach der Einigung dann aber sagte Lech Kaczynski in Brüssel, das Ergebnis sei für Polen sehr ermutigend. Sein Land habe Solidarität Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands erfahren.
Extrawurst für Großbritannien
Auch andere Staaten setzten in den zähen Verhandlungen Änderungen am Vertragsentwurf durch. So werden für Großbritannien Ausnahmen von der Bindewirkung der EU-Grundrechtecharta verankert. Premierminister Tony Blair kündigte daraufhin an, in Großbritannien sei kein Referendum über den Vertrag nötig. Eine Volksabstimmung der EU-skeptischen Briten hatte als großes Risiko gegolten.
Von Carsten Lietz und Markus Krah, Reuters
Quelle: ntv.de