Politik

Der türkische Ministerpräsident steht über der Krise Erdogan Allmächtig

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(Foto: picture alliance / dpa)

Recep Tayyip Erdogan erklärt die Kommunalwahlen in der Türkei Ende März zur Volksabstimmung über seine politische Zukunft. Allen Skandalen und Rückschlägen zum Trotz. Was paradox wirkt, ist ein wohlüberlegter Schritt.

Skandal nach Skandal, Misserfolg nach Misserfolg - eigentlich spricht alles gegen Recep Tayyip Erdogan. Zumindest gemessen an den Standards der EU. Doch die zählen offensichtlich wenig in der Türkei dieser Tage. Ein Erfolg der Partei des türkischen Ministerpräsidenten bei den Kommunalwahlen Ende März, die Grundlage für seine politische Zukunft, erscheint zumindest trotz der Regierungskrise wahrscheinlich.

Am Mittwoch besuchten Zehntausende die Beerdigung Berkin Elvans, der bei den Gezi-Protesten verletzt wurde und Monate später starb.

Am Mittwoch besuchten Zehntausende die Beerdigung Berkin Elvans, der bei den Gezi-Protesten verletzt wurde und Monate später starb.

(Foto: REUTERS)

In Umfragen liegt die AKP weiterhin vor ihrer Konkurrenz. Gar ein besseres Ergebnis als bei den vergangenen Kommunalwahlen erscheint möglich. Auch Türkei-Experten zweifeln kaum an einem Sieg der Religiös-Konservativen. "Die Chancen sind groß, dass die AKP die stärkste Partei bleibt", sagt Yaşar Aydın von der Stiftung Wissenschaft und Politik n-tv.de. Wie kann das sein?

Gerade hat das EU-Parlament den Fortschrittsbericht der Türkei für das Jahr 2013 beschlossen. Aller Diplomatie und allem Optimismus zum Trotz zeigt er ein Sammelsurium der Verfehlungen: Die EU wirft Erdogan mangelnde Kompromissbereitschaft bei seiner Innenpolitik vor. Versuche, sich den Demonstranten der Gezi-Proteste anzunähern, habe es nicht gegeben. Erdogan habe den Widerstand gegen die Zerstörung eines Parks, der sich zu einem Widerstand gegen Erdogans bevormundende Politik und den immer stärkeren Einfluss der Religion auf den Alltag entwickelte, stattdessen mit Polizeigewalt zu unterdrücken versucht. Von mangelnder Meinungs- und Versammlungsfreiheit ist in dem Bericht die Rede. Auch wirtschaftlich stellt die EU Erdogan ein mieses Zeugnis aus. Der Wachstum ist von 9 Prozent im Jahr 2012 auf nur noch 3,7 Prozent zusammengeschrumpft und das in Verbindung mit einer zunehmenden Inflation und einem beträchtlichen Außenhandelsdefizit.

Als wären das nicht Gründe genug gegen Erdogan, kommen all die Ereignisse hinzu, die die Türkei seit dem Jahreswechsel erschüttern. Ein Korruptionsskandal gewaltigen Ausmaßes, in den angeblich nicht nur die Familie des Ministerpräsidenten, sondern auch er selbst verstrickt ist. Der Versuch, die Justiz in seinem Sinne umzukrempeln, um Ermittlungen auszuweichen. Die Drohung, soziale Netzwerke zu sperren, um der Opposition eines ihrer wichtigsten Instrumente zu entreißen. In einer Erklärung brachten EU-Parlamentarier ergänzend zu ihrem Fortschrittsbericht denn auch ihre Besorgnis über die jüngsten Ereignisse deutlich zum Ausdruck. Sie kritisieren darin, dass Erdogan Justizbeamte und Polizisten entlassen hat, die in dem Korruptionsskandal ermittelten. Und sie pochen auf Gewaltenteilung, fordern eine grundlegende Verfassungsreform.

Trotz und Leichtgläubigkeit

Dass ein Großteil der türkischen Bevölkerung sich trotzdem hinter ihren Ministerpräsidenten stellt - die AKP kann bei der Parlamentswahl durchaus mit 40 Prozent Zuspruch rechnen - hat laut dem Türkei-Experten Aydın vor allem einen Grund: "Die türkische Gesellschaft ist stark polarisiert." Auf der einen Seite steht der Teil, der auch die Gezi-Proteste unterstützte. Der geht auch dieser Tage wegen eines 15-Jährigen auf die Straße, der während der Demonstrationen verletzt und nach Monaten im Koma nun gestorben ist. Diesen Teil der türkischen Gesellschaft erzürnen auch die Korruptionsvorwürfe und Erdogans Umgang damit.

Auf der anderen Seite allerdings steht eine große islamisch-konservative Fraktion. Sie hatte schon während der Gezi-Proteste wenig Verständnis für das Aufbegehren einer modernen Zivilgesellschaft. Es ist der alte Konflikt zwischen Säkuralisten und politisch Religiösen, zwischen Öffnung und Tradition, Wandel und Verlässlichkeit. Einigen der Konservativen, so Aydın, könne Erdogan durch Verschwörungstheorien hinter sich versammeln. Der Ministerpräsident beschreibt den Korruptionsskandal als eine Intrige ausländischer Mächte. Für die übrigen gilt laut Aydın angesichts der wachsenden Entfremdung von der Gegenseite: "Aus einer Trotzhaltung heraus entscheiden sich viele für die AKP." Hinzu komme dann noch, dass die wirtschaftlichen Probleme der Türkei bei vielen noch nicht angekommen seien. "Es geht der Bevölkerung noch relativ gut."

Erdogan scheint all das bewusst zu sein. Erst vor wenigen Tagen kündigte er selbstbewusst an: Sollte seine AKP nicht als stärkste Kraft aus den Kommunalwahlen hervorgehen, werde er sich aus der aktiven Politik zurückziehen. Erdogan macht die Kommunalwahl zu einer Abstimmung über seine Zukunft. Seinen Sieg kalkuliert er dabei selbtredend mit ein.

Eigentlich schreibt das Statut der AKP vor, dass Erdogan nach dieser Amtszeit als Ministerpräsident abtreten muss. In der AKP ertönt laut Aydın aber schon der Ruf, die Begrenzung der Amtszeiten aufzuheben. Und der Türkei-Experte hält es durchaus für realistisch, dass es dazu kommt. Vorausgesetzt, Erdogan strebt nicht schon vorher nach dem Präsidentenamt. Und vorausgesetzt, dass ihm eine erfolgreiche Kommunalwahl auch eine Argumentationsgrundlage für diese Reform bietet.

Abgesehen von seinen politischen Ambitionen spricht dafür, dass er früher oder später auf den Immunitätsstatus angewiesen sein könnte, dem ihm dieses Amt bietet. Denn auch, wenn es dieser Tage so wirkt, als stünde Erdogan über der Krise, die Justiz könnte ihn irgendwann doch für den einen oder anderen Skandal oder folgenschweren Misserfolg verantwortlich machen. Spätestens, wenn die wirtschaftlichen Probleme der Türkei sich auch in der breiten Masse bemerkbar machen, könnten sich seine Unterstützer schließlich von ihm abwenden. Vorausgesetzt, er hat die Türkei bis dahin nicht in einen restlos autokratischen Staat verwandelt.

Quelle: ntv.de

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