Auf Stimmenfang in Berlin Erdogan kämpft um seinen Lebenstraum
04.02.2014, 08:50 Uhr
Recep Tayyip Erdogan will Präsident werden. Der Weg dorthin führt ihn auch nach Berlin.
(Foto: REUTERS)
Die lange Zeit florierende Wirtschaft der Türkei zeigt Schwäche - ausgerechnet in dem Jahr, in dem sich Erdogan verewigen will. In Berlin versucht der AKP-Politiker sein Image wieder aufzupolieren.
In Ankara ist keiner sicher, seit die Justiz eine Korruptionsaffäre im Umfeld Erdogans aufzuklären versucht. Richter, Staatsanwälte, Polizeichefs und Mitarbeiter anderer Behörden wurden reihenweise ihrer Posten enthoben. Weil Regierungschef Recep Tayyip Erdogan eine "Verschwörung" wittert - gegen sich selbst, seine Partei und gegen die Türkei. Erdogan ist überzeugt, dass der islamische Prediger Fethullah Gülen hinter diesem "Komplott" steckt. Es ist eine Affäre, die die vermeintlichen demokratischen Bemühungen der AKP-Regierung der vergangenen Jahre demaskiert.

Sollte Erdogan in Deutschland Wahlkampf machen?
Was am Bosporus geschieht, lastet auch schwer auf dem deutsch-türkischen Verhältnis und wird den Besuch Erdogans bei Kanzlerin Angela Merkel an diesem Dienstag maßgeblich beherrschen. Über "die beiderseitigen Beziehungen" wollen Merkel und Erdogan sprechen, heißt es im glatten Diplomatendeutsch. Tatsächlich müsste es heißen: Erdogan und Merkel versuchen zu retten, was von den "beiderseitigen Beziehungen" noch übrig geblieben ist. Erdogan wird es schwer fallen, Merkel von seiner Komplott-Theorie zu überzeugen.
Denn das deutsch-türkische Verhältnis, offiziell zwar freundschaftlich und von gegenseitigen Interessen geprägt, ist schon seit einiger Zeit abgekühlt. Als im Sommer 2013 die türkische Polizei der friedlichen Bewegung für den Erhalt des Gezi-Parks im Herzen Istanbuls mit Gewalt begegnete, reagierte Merkel mit Entsetzen. Als "viel zu hart" bezeichnete sie die Einsätze, die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung ließ den türkischen Botschafter in Berlin ins Auswärtige Amt kommen. Dass Erdogan die Gewalt nicht stoppte, obwohl die Eröffnung eines neuen Kapitels der EU-Beitrittsverhandlungen anstand, war eine Provokation.
Erdogan macht bei jeder Gelegenheit klar, dass für ihn der Beitritt zur EU keine Priorität hat, auch wenn seine Regierung das Ziel offiziell weiter verfolgt. Schon als Merkel im Februar 2013 die Türkei besuchte, brüskierte er die Kanzlerin. Auf den Beitritt der Türkei angesprochen, antwortete Erdogan: "Die Türkei ist schon in der Europäischen Union." Schon jetzt lebten mehr als fünf Millionen Landsleute in EU-Ländern. Der kleine Scherz war Erdogans Retourkutsche für Merkels Beharren auf "ergebnisoffenen Verhandlungen" - ein Euphemismus dafür, dass sie die in Ankara ungeliebte privilegierte Partnerschaft einer Vollmitgliedschaft vorzieht.
Erdogan greift nach den Sternen
Erdogans Auftreten war seinerzeit aber auch Ausdruck der neuen Potenz und des neuen Selbstbewusstseins der Türkei. Außenpolitisch tritt das Land als Mittelmacht im Osten auf, wirtschaftlich ging es am Bosporus seit Jahren immer bergauf. EU-Kommissar Günther Oettinger sagte vor rund einem Jahr noch, Deutschland und Frankreich würden im kommenden Jahrzehnt "auf Knien nach Ankara robben", um die Türken um den Beitritt zu bitten. Fast schien es, als könnte er recht behalten.
Doch der Wirtschaftsaufschwung stockt. Das Außenhandelsdefizit wird größer. Vergangene Woche hat die türkische Zentralbank den Leitzins für die heimische Lira in die Höhe gerissen. Die Gezi-Park-Ausschreitungen und Erdogans Aufräumaktionen im Polizei- und Justizapparat haben nicht gerade vertrauensbildend gewirkt. Der Kapitalfluss in die Türkei droht zu versiegen, weil Investitionen in sicherere Regionen der Welt langsam wieder attraktiver werden. Und so wird Angela Merkel einen reichlich geschrumpften türkischen Riesen im Kanzleramt empfangen.
Dass Erdogans Regierung ausgerechnet in diesem Jahr vor solch großen Problemen steht, ist bitter für den AKP-Mann. Denn der Lebenstraum des 59-Jährigen gerät damit in Gefahr. Sein Karriereplan sieht vor, nach elf Jahren als Ministerpräsident auf den Posten des Staatspräsidenten zu wechseln. Dort will er bleiben, bis zum 100. Jubiläum der Türkischen Republik, in einer Reihe stehen mit Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Doch der Jahrestag kommt erst 2023, in neun Jahren also. Und Erdogan muss erst einmal Präsident werden. Im August stehen die Wahlen an, es wird erwartet, dass Erdogan die Gelegenheit nutzt, aus dem Amt des Ministerpräsidenten heraus anzutreten. Zuvor muss die AKP unbedingt bei den Kommunalwahlen im März punkten.
Deshalb ist der Besuch Erdogans in Berlin auch ein Wahlkampftrip. Vor Tausenden Türken will er nach dem Treffen mit Merkel im Tempodrom eine Rede halten und inoffiziell schon einmal um Stimmen werben. Im Sommer können im Ausland lebende Türken erstmals ihre Stimme auch fern der Heimat abgeben, in Deutschland leben Millionen Wahlberechtigte, die einen ernstzunehmenden Faktor darstellen. Ob sie ihr Kreuz bei Erdogan machen, hängt auch davon ab, wie sich der Ministerpräsident bei seinem Besuch im Kanzleramt schlägt.
Quelle: ntv.de