Estlands Ex-Präsident "Es ist ekelhaft, dass Russen in Europa feiern können"
13.09.2022, 12:38 Uhr (aktualisiert)
Alle osteuropäischen Länder mit Ausnahme Ungarns hätten vor Nord Stream II gewarnt, sagt Toomas Hendrik Ilves, hier 2015 mit Angela Merkel. "Aber Länder wie Deutschland sagten: Zur Hölle mit ihnen, wir wollen mehr billiges russisches Gas kaufen, damit wir mehr Geld verdienen können."
(Foto: picture alliance / dpa)
Dass die Europäische Union an diesem Montag das Visa-Abkommen mit Russland aussetzen dürfte, reicht Toomas Hendrik Ilves nicht. Touristenvisa würden damit nur teurer, sagt der frühere Präsident von Estland im Interview mit ntv.de. "Ich glaube nicht, dass sich die Frau eines russischen Abgeordneten der Putin-Partei, die sich in einem Luxushotel in Paris vergnügt, sonderlich daran stören wird."
Ilves war von 2006 bis 2016 Staatspräsident von Estland. Über Putin sagt er, dieser scheine "in eine späte Adolf-Hitler-Phase geraten zu sein". Den westeuropäischen Regierungen wirft Ilves "Kurzsichtigkeit" und "intellektuell unseriöses Vorgehen" im Umgang mit Russland vor. Kritik übt er auch an Bundeskanzler Scholz. Über dessen "Zeitenwende" sagt Ilves ironisch: "Ich weiß, 'Zeit' kann Sekunden und Minuten bedeuten, aber es kann auch eine Ewigkeit bedeuten." Was Deutschland tue, "hat mit Führung nicht viel zu tun".
ntv.de: Sie haben die Forderung Estlands, Finnlands und der Tschechischen Republik nach einem Verbot von Touristenvisa für Russen immer unterstützt. Warum?
Toomas Hendrik Ilves: Zunächst einmal waren es nicht nur diese Länder, die das Visumverbot gefordert haben, sondern auch Dänemark, Lettland, Litauen und Polen. Und es gibt zahlreiche Gründe für ein Visumverbot, angefangen bei der Tatsache, dass 30 Prozent der Russen über Estland in die Europäische Union einreisen, weil man von Russland aus nicht mehr in die EU fliegen kann. Zweitens: Viele dieser Einreisen hätten nie legal sein dürfen.
Warum nicht?
Das Visaerleichterungsabkommen von 2007 besagt, dass man, wenn man mit einem Visum in die EU einreist, über das Territorium des Mitgliedstaates einreisen muss, der das Visum ausgestellt hat. Estland hat im Juli die Ausgabe von Visa für Russen eingestellt, so dass sie mit Visa aus anderen Ländern nach Estland kommen. Meiner Meinung ist das ein Verstoß gegen das Visaerleichterungsabkommen. Vor allem aber finde ich es ekelhaft und unmoralisch, dass Menschen aus Russland in Europa feiern, während Russland einen völkermörderischen Krieg gegen die Ukraine führt. Sie können sich wahrscheinlich vorstellen, wie die USA reagiert hätten, wenn deutsche Touristen es sich 1940 in Miami Beach hätten gut gehen lassen. Ich halte es für inakzeptabel, dass die EU Touristenvisa an Russen verteilt, während Menschen in die EU vor russischem Massenmord, Vergewaltigungen, Folter und im Grunde genommen vor Völkermord fliehen. Zudem gab es mehrere Vorfälle, wo russische Touristen ukrainische Flüchtlinge in Europa belästigt haben.
Plädieren Sie für ein Verbot aller Arten von Visa für Russen?
Nein, nur für kurzfristige 90-Tage-Visa, da diese von Touristen genutzt werden. Deshalb finde ich die Rhetorik der deutschen und französischen Regierung unhaltbar. Sie sagten: Wie sollen wir denn dann die Wissenschaftler hierher bekommen? Nein. Wissenschaftler reisen nicht mit Touristenvisa. Journalisten reisen nicht mit Touristenvisa. Ich finde es peinlich, dass solche Argumente vom sogenannten Motor der Europäischen Union vorgebracht werden. Xenija Sobtschak, Putins Patenkind, war im Urlaub in Biarritz - dem Urlaubsort der französischen Könige, als Frankreich noch Könige hatte. Auf Instagram jammerte und beschwerte sie sich über die Menschen, die unter den Sanktionen leiden. Das sind die Menschen, die von dem Visumverbot betroffen sein werden.
Das Visaerleichterungsabkommen wird wahrscheinlich an diesem Montag ausgesetzt. Sind Sie damit zufrieden?
Nicht ganz. Es schafft die russischen Touristenvisa nicht ab, sondern macht sie nur teurer. Und ich glaube nicht, dass sich die Frau eines russischen Abgeordneten der Putin-Partei, die sich in einem Luxushotel in Paris vergnügt, sonderlich daran stören wird. Sie wird wohl kaum darunter leiden, dass wenn das Visum 50 Euro teurer wird.
Deutschland und Frankreich hatten in einem gemeinsamen Positionspapier argumentiert, dass man den Einfluss nicht unterschätzen sollte, den die unmittelbare Erfahrung des Lebens in Demokratien haben kann. War das nicht ein gutes Argument?
Lassen Sie uns mal empirisch an die Sache rangehen. Wir haben seit 30 Jahren offene Grenzen mit Russland. Schauen wir uns nun an, welche erstaunlichen Auswirkungen dies auf die russische Demokratie hatte. Und ich spreche jetzt gar nicht von Reisen nach Biarritz - all diese Dinge wie Jugendaustauschprogramme, akademischer Austausch... Was hat das bewirkt? Ich sehe nicht übermäßig viele Russen, die sich verwundert an die Stirn schlagen, wenn sie nach Europa kommen, und sagen: "Oh mein Gott, ich habe gar nicht gewusst, wie toll Demokratie ist."
Bundeskanzler Scholz betont regelmäßig, dass dies "nicht der Krieg des russischen Volkes" sei, für ihn ist es "Putins Krieg".
Putin führt keine Massenvergewaltigungen durch, er kastriert keine Kriegsgefangenen und sprengt sich auch nicht selbst in die Luft. Es ist nicht er persönlich, der zivile Ziele bombardiert. Das ist genau die Art von Kurzsichtigkeit, die Art von intellektuell unseriösem Vorgehen, mit denen wir seit Jahren bei einer Reihe von Regierungen zu tun haben. Es sind dieselben Leute, die genau ein Jahr nach der Invasion und Besetzung der Krim 2014 das Nord-Stream-II-Abkommen unterzeichnet haben. Alle osteuropäischen Länder mit Ausnahme Ungarns haben davor gewarnt. Aber Länder wie Deutschland sagten: Zur Hölle mit ihnen, wir wollen mehr billiges russisches Gas kaufen, damit wir mehr Geld verdienen können.
Sie sprechen von Angela Merkel.
Es war nicht nur sie. Im Jahr 2008, nachdem Russland in Georgien einmarschiert war, verkündete der französische Präsident Nicolas Sarkozy, er habe ein Friedensabkommen vermittelt, ein Sechs-Punkte-Abkommen, von dem Punkt fünf der vollständige Abzug der russischen Truppen von georgischem Hoheitsgebiet war. Dazu kam es nie, aber einige Wochen später zwang Sarkozy die EU, das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen wieder in Kraft zu setzen, das kurz zuvor wegen des Krieges ausgesetzt worden war. Ich erinnere mich, dass Sarkozy sagte: "Gott sei Dank, der gesunde Menschenverstand hat gesiegt", obwohl dies bedeutete, dass sein eigenes Friedensabkommen völlig bedeutungslos wurde. Bis zum heutigen Tag halten russische Truppen Teile Georgiens besetzt.
Aber ich weiß, dass die westeuropäischen Regierungen so etwas nicht hören wollen. Sie wollen nicht hören, dass sie das North-Stream-II-Abkommen nur ein Jahr nach dem Abschuss des Fluges MH17 der Malaysia Airlines unterzeichnet haben, bei dem fast 300 EU-Bürger ums Leben kamen. Stattdessen werden wir als "russophob" abgeschrieben. Warum, glauben Sie, ist Osteuropa so aufgebracht über das, was wir in der Ukraine sehen?
Warum?
Weil wir das alles schon durchgemacht haben. Wir haben die sowjetische Besatzung erlebt. In meinem Land gab es 1941 Massendeportationen. Wir hatten sie 1949 erneut. Im April 1945 gab es in der Gegend, in der ich lebe, Massenmorde. Wir haben das alles schon erlebt. Wenn wir jetzt hören, "es ist Putin, es sind nicht die Russen", dann ist das für uns einfach nur empörend.
Vielleicht neigen die Deutschen dazu, alles abzulehnen, was sie als Kollektivschuld ansehen.
Kollektivschuld impliziert Gericht und Bestrafung. Nicht nach Europa reisen zu können, das ist keine echte Strafe.
Nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine hat Olaf Scholz eine "Zeitenwende" ausgerufen, und erst kürzlich sagte er in Prag, dass europäische Antworten auf die "Zeitenwende" nötig seien. Glauben Sie, dass sich die deutsche Politik gegenüber Russland und auch gegenüber Osteuropa geändert hat?
Nun, bis vor etwa einem Monat hat Estland der Ukraine 0,83 Prozent unseres BIP als bilaterale Hilfe zur Verfügung gestellt. Deutschland hat 0,08 Prozent gegeben. [https://www.ifw-kiel.de/topics/war-against-ukraine/ukraine-support-tracker/] Ich weiß, "Zeit" kann Sekunden und Minuten bedeuten, aber es kann auch eine Ewigkeit bedeuten. Lassen Sie es mich so formulieren: Was Deutschland tut, hat mit Führung nicht viel zu tun. Sie erinnern sich an den Tiergartenmord?
Der Mord an einem Tschetschenen in Berlin 2019 durch einen FSB-Agenten.
Der Mörder ist mit einem Touristenvisum nach Deutschland eingereist. Ich finde es interessant, dass das in Deutschland niemanden zu stören scheint. Wollen wir wirklich einen Schengen-Raum voller Mörder?
Glauben Sie, dass die deutsche Regierung oder Teile von ihr insgeheim auf die Rückkehr von billigem Gas hoffen?
Ich denke, jeder hofft auf billiges Gas. Die Frage ist: Was kostet billiges Gas aus Russland? Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, einem Land, das einen bedroht, haufenweise Geld zu geben. Das ist eine geostrategische Frage, aber auch eine moralische. Und ich habe das Gefühl, dass das Land, das Europa seit Jahren belehrt, nicht die moralische Supermacht ist, für die es sich oft hält.
Der Westen argumentiert, dass die Waffenlieferungen an die Ukraine Russland zum Verhandeln zwingen sollen. Glauben Sie, Putin könnte möglicherweise erkennen, dass die Kosten dieses Krieges für ihn zu hoch sind?
Er scheint in eine späte Adolf-Hitler-Phase geraten zu sein: Wenn die Presseberichte dazu stimmen, hat er persönlich die Führung des Krieges übernommen. Ich weiß nicht, ob er in einem Bunker landen wird, aber im Allgemeinen enden Diktatoren schlecht, die sich für Genies halten.
Zwölf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust war die Bundesrepublik Deutschland Gründungsmitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Ist vorstellbar, dass Russland zwölf Jahre nach dem Krieg gegen die Ukraine international rehabilitiert sein wird?
Deutschland trat 1955 sogar der NATO bei. Es lag damals sehr im Interesse des Westens, Deutschland einzubinden, da es eine zentrale Sicherheitsbedrohung gab - die Sowjetunion. Ich denke, es wird noch lange dauern, bis die Ukraine und alle anderen europäischen Länder entlang der russischen Grenze Russland in einer Art Partnerschaftsabkommen sehen wollen. Rehabilitation setzt voraus, dass man zugibt, was man getan hat. Angesichts der Tatsache, dass Russland wieder dazu übergegangen ist, die Existenz der geheimen Zusatzprotokolle des Hitler-Stalin-Pakts zu leugnen, sehe ich nicht, dass dies geschehen wird.
Russland sieht sich nach wie vor nicht nur als der rechtliche, sondern auch als der moralische Nachfolger der Sowjetunion. Es leugnet alle Arten von Gräueln, die von der Sowjetunion begangen wurden. Eine internationale Rehabilitierung würde erfordern, dass Russland den Umgang mit seiner Vergangenheit ganz wesentlich verändert. Und eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland wird es auf keinen Fall geben, solange die Ukraine nicht wiederaufgebaut ist und die Kriegsverbrecher nicht in Den Haag sind. Wir müssen die Dinge auf lange Sicht und in einer umfassenden Perspektive betrachten. Russland hat die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaute europäische Ordnung zerstört. Es hat dabei nicht nur zahllose internationale Abkommen einschließlich der UN-Charta gebrochen, sondern auch das ultimative Tabu, das den Frieden in Europa seit 1945 aufrechterhalten hat: Grenzen dürfen nicht mit Gewalt verändert werden. Wenn man dieses Tabu einmal gebrochen hat, kann man nicht mehr zum Ausgangspunkt zurückkehren. Das ist etwas, was Scholz und Macron leider nicht wirklich verstanden haben.
Mit Toomas Hendrik Ilves sprach Hubertus Volmer
(Dieser Artikel wurde am Freitag, 09. September 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de