Auffanglager auf Lampedusa Flucht ins kalkulierte Chaos
15.02.2011, 22:33 Uhr
Mit Schiffen wie diesem kommen die Menschen aus Nordafrika in Italien an.
(Foto: AP)
Auf der südlichsten europäischen Insel Lampedusa sind über 2000 Flüchtlinge gestrandet. Die größtenteils jungen Männer suchen nach Arbeit, nach Wohlstand. Die Ordnungskräfte des eingerichteten Lagers schauen nur zu - der Verdacht kommt auf, das Panik und Chaos ausbrechen soll. Doch die Tunesier sind klug - und organisieren sich selber.
Es ist ein schwacher Trost, dass ganz Europa wieder einmal gebannt auf das kleine Inselchen vor der afrikanischen Küste schaut. Die offiziell 4500 Lampedusaner hatten gehofft, dass irgendjemand
den Streik der Inselfischer wahrnehmen würde, gegen die Teuerung des Dieselkraftstoffes, der viele von ihnen zum Aufgeben zwingt. Stattdessen wieder einmal die Flüchtlinge. Einmal nicht aus Libyen kommend, wie gewöhnlich in den letzten Jahren, sondern aus Tunesien.
Die Flüchtlinge aus Libyen waren beiliebe keine Einwohner des Gaddafi-Staates. Nein, jene kamen von weit her, aus dem Niger, aus Äthiopien, aus Ägypten, angeschleppt von den Menschenhändlern. Sie kamen als ganze Familien, mit Sack und Pack. Nachdem Italiens Regierungschef Silvio Berlusoni mit Muammar al-Gaddafi einen für Libyen sehr vorteilhaften Hilfsvertrag abgeschlossen hat, kommen sie nicht mehr. Noch kontrolliert der Militärdiktator sein Land perfekt. Bis vor kurzem war das auch bei Alis Tunesien der Fall. Der Wind der Demokratie aber hat die Kontrollen in den Häfen hinweg gefegt und die Jugend Tunesiens möchte gar überhaupt nicht am Aufbau Tunesiens teilnehmen, sondern die neu gewonnene Freiheit nur zu einem nutzen: Zur Flucht.
Flucht vor Armut
Ganz fremd sollte uns Deutschen das ja nicht sein. So kommen junge, kräftige Männer, die unisono in die Mikrofone der Medienvertreter erzählen, dass sie Armut und Hoffnungslosigkeit entflohen sind, dass sie arbeiten wollen, Geld verdienen und sich integrieren. Im Auffanglager auf Lampedusa
organisieren sie einen eigenen Ordnungsdienst, während die Polizei völlig untätig zuschaut.
Der Verdacht kommt auf, dass hier jemand bewusst darauf spekuliert hat, dass Panik und Chaos auf der Insel ausbrechen könnten, wenn man die Tore des Flüchtlingscamps einfach sperrangelweit aufmacht. Dass jemand ganz still und heimlich darauf gehofft haben könnte, um eine willkommene Ablenkung von Sex-Skandalen und bevorstehenden Prozessen herbei zu führen. Doch das ist alles nicht passiert.
Aber seltsam ist es schon, die Insel voller Tunesier und Polizisten, Carabinieri und Finanzwachen-Beamter zu sehen, die vollkommen aneinander vorbei schauen, als ob es die einen für die anderen nicht gäbe. Seltsame Welt, wenn man an den letzten Ansturm der Bootsflüchtlinge vor zwei Jahren denkt, als die Polizei regelrechte Hetzjagden auf die Illegalen veranstaltete und jeder ins Auffanglager gepfercht wurde - auch damals mehr als 2000 Leute, wie heute.
Doch die Klugheit der Tunesier hat den möglichen Wunschtraum nach Chaos auf Lampedusa nicht Wirklichkeit werden lassen. Dazu beigetragen hat sicher auch die relaxte Haltung der Einwohner. Sie kennen die Tunesier seit Generationen, früher lebte man sogar viel enger zusammen, vor der
Ali-Diktatur. Hier gibt es nicht wenige Familien, die nach Tunesien heirateten und umgekehrt. Tunesien und Libyen sind die natürlichen Küsten der südlichsten Inseln Italiens. Europa tut gut daran, sich die Gelassenheit der Lampedusaner zu eigen zu machen. Wenn die Diktaturen zusammenbrechen, bewegen sich die Menschen. Und viele von ihnen wollen nach Europa kommen.
Einwanderung wird zunehmen
Sicher, viel Arbeit gibt es nicht zu verteilen. Auch in Italien beträgt die Jugendarbeitslosigkeit 30 Prozent, wie in den arabischen Ländern. Hierzulande, wie am südlichen Ufer des Mittelmeers, muss die Familie unterstützen. Aber die Immigrationsströme sind natürliche Erscheinungen in der gesamten Menschheitsgeschichte. Wer sich integrieren möchte, wer das Risiko einer Meeresüberfahrt auf sich nimmt, hat schon ein hohes Maß an Risikobereitschaft und Einsatz gezeigt, das so manchem Ureinwohner unserer Länder abgeht.
Kontrollen der illegalen Einwohner sind notwendig, das sei sofort gesagt, auch strenge. Unter den 5000 Tunesiern auf der Insel sind auch – deutlich sichtbar – bestimmte Elemente, die man sofort zurückschicken sollte. Umso verwunderlicher ist es, dass die italienische Polizei dem Ganzen so völlig tatenlos zuschaut. Ein Schelm, wer dabei nicht an Böses denkt. Doch es ist eine Minderheit, eine
kleine zudem. Und eines wissen wir ja längst: Der Einwanderungsdruck aus den arabischen Ländern wird zunehmen. Das sind in den allermeisten Fällen keine "Schläfer", versteckte Terroristen oder Gangster, sondern verzweifelte Menschen, die eine neue Heimat, die Arbeit und Demokratie suchen.
Quelle: ntv.de