
Es mache einen Unterschied, "ob Freie Demokraten Mitverantwortung tragen oder nicht", sagt Christian Lindner. Das ist der Kern seiner Erzählung.
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Erneuerung des sozialen Aufstiegsversprechens, echte Klimapolitik, die "einzig handlungsfähige Partei der bürgerlichen Mitte": Wenn man FDP-Chef Lindner so zuhört, klingt es fast, als wolle die FDP die anderen Parteien überflüssig machen.
Auf den ersten Blick ist Christian Lindner ganz der alte. Wie im vergangenen Jahr musste das traditionsreiche Dreikönigstreffen der FDP coronabedingt zur Online-Veranstaltung heruntergestuft werden, wie fast immer spricht der Parteivorsitzende frei - anders als beim digitalen Parteitag im Dezember auch in den Passagen, in denen es um die Pandemie geht.
Lindner ist jedoch nicht derselbe, der noch vor wenigen Monaten in Opposition zur Corona-Politik, zu den Grünen, zur SPD und zur Union stand - in dieser Reihenfolge. Dass der Bruch nur auf den zweiten Blick auffällt, liegt daran, dass Lindner sich schon seit einiger Zeit einer staatsmännisch-moderaten Rhetorik befleißigt. Abfällige Bemerkungen wie in der großen Schlussrunde drei Tage vor der Wahl, als er Ausführungen von Grünen-Chefin Annalena Baerbock über die Klimapolitik mit einem "Oh Gott, oh Gott" kommentierte, hatten schon im Spätsommer Seltenheitswert.
Mittlerweile sind sie ganz verschwunden. Der Grund liegt auf der Hand: Lindner ist von der Opposition in die Regierung gewechselt, in eine Koalition mit SPD und Grünen. Die knapp einstündige Rede ist Lindners erste als Bundesfinanzminister in der Stuttgarter Staatsoper. Fünf Akte hat der Auftritt. Zunächst spricht der FDP-Vorsitzende über die "andere Krisenstrategie" der Ampelkoalition in der Corona-Politik, dann über Deutschland als Einwanderungsland, über "die Erneuerung des sozialen Aufstiegsversprechens" sowie über das "Wohlstands- und Wachstumsthema" Klimaschutz und schließlich über Finanzpolitik.
Im Corona-Akt ist von der Fundamentalkritik eines Wolfgang Kubicki nichts zu hören, aber das war schon vor einem Jahr so. Es sei gelungen, sagt Lindner, "die vierte Welle zu bewältigen, ohne unser Gesundheitssystem zu überfordern". Für ihre Corona-Politik sei die FDP "auch kritisiert" worden. Diese Kritik dreht er um in ein Lob: "Kann man eigentlich die Bedeutung einer liberalen Regierungspartei deutlicher unterstreichen, wenn man ihr vorwirft, eine besondere Sensibilität für Freiheit und für die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen zu haben?" Auch in der Omikron-Welle bleibe es das Ziel der FDP, Lockdowns "weitgehend zu verhindern".
"Einzig handlungsfähige Partei der bürgerlichen Mitte"
Der FDP sei es zu verdanken, dass die Entscheidung über die Impfpflicht im Bundestag "nicht entlang von Partei- und Fraktionslinien getroffen wird". In diesem Zusammenhang wiederholt Lindner seinen Satz, die FDP sei die "einzig handlungsfähige Partei der bürgerlichen Mitte", die auch Anliegen von Unionsanhängern berücksichtigen werde. "Dieses Anliegen aber, das können wir nicht erfüllen." Als Kronzeugin zitiert er die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", das klassische Leitmedium des konservativen Bürgertums. Diese hatte in einem Kommentar zur Impfpflicht geschrieben, "mit ihrer Nachdenklichkeit" erweise die FDP "der Demokratie einen Dienst".
In seinen Passagen zur Migrationspolitik betont Lindner, dass es nicht darum gehe, für mehr Zuwanderung zu sorgen, sondern für "qualifizierte Einwanderung". Er wisse, dass viele die Erwartungen hätten, dass sich bei der humanitären Zuwanderung viel tue, sagt Lindner. Dies sei ein Anliegen "unserer Freunde von Bündnis 90/Die Grünen". Das gehe aber nur, wenn Deutschland "tragfähige und in der Praxis funktionierende Rückführungs- und Migrationsabkommen mit anderen Staaten schließt". Mit anderen Worten: Wer mehr Zuwanderung will, muss auch mehr abschieben.
Die Formel von den "Freunden von Bündnis 90/Die Grünen" ist neu, und sie klingt bei Lindner wie eine Mischung aus Nähe und ironischer Distanz. Direkte Kritik an den Koalitionspartnern, denen Lindner im Wahlkampf noch einen "Linksdrift" vorgeworfen hatte, gibt es nicht. Im Gegenteil: In Akt drei und vier eignet Lindner sich die zentralen Themen von SPD und Grünen an, indem er sie liberal umdefiniert. Das Aufstiegsversprechen nennt er "eine der größten Herausforderungen sozial gerechter Politik". Dabei gehe es allerdings nicht um Umverteilung, sondern um "Anerkennung". Ausdrücklich erwähnt Lindner "den Gedanken des Respekts", der in der neuen Regierungspolitik angelegt sei. Was er nicht sagt: Dass dieser Begriff im Zentrum des Wahlkampfs von SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz stand.
Lindner lehnt Atomkraft ab
Ähnlich macht Lindner es beim Klimaschutz. Die Diskussion darüber sei bisher "stark kulturell geprägt" gewesen. Diese Debatte habe sich, so stellt es Lindner dar, vollständig verändert, eine regelrechte "Transformation" habe seit der Bundestagswahl stattgefunden: "Wer spricht noch vom Tempolimit, wer spricht noch von kleinteiligen Verboten im Alltag? Heute geht es um Milliarden von Investitionen in unsere Infrastruktur." Investitionen, die natürlich vor allem von privater Hand kommen sollen.
Haushalten, die einen überproportionalen Anteil ihres Einkommens für die gestiegenen Energiekosten aufwenden müssen, verspricht Lindner eine "solidarische Unterstützung". Langfristig sollten alle über die Abschaffung der EEG-Umlage und das geplante Klimageld entlastet werden. "Aber wir müssen auch kurzfristig handeln", betont Lindner.
Zum Streit über die von der EU-Kommission geplante Einstufung von Atomenergie als nachhaltig sagt er, jeder Mitgliedstaat der Europäischen Union entscheide selbst über die eigene Energieerzeugung, "und das verdient Respekt". Atomenergie möge jedoch CO2-arm sein, sei aber alles andere als nachhaltig. Wenn das missachtet werde, "dann gäbe es eine Wettbewerbsverzerrung". Und Lindner stellt klar: "Für Deutschland ist die Kernenergie ohnehin keine Option." Manche träumten davon, aber, so fragt der FDP-Chef: Wo gäbe es Betreiber, Investoren oder Versicherer, die die Finanzierung übernähmen? "Eine Energiequelle, die nur etabliert werden kann, wenn der Staat in die Haftung geht", sei marktwirtschaftlich nicht sinnvoll.
In Merz setzt Lindner "Hoffnung"
Im steuerpolitischen Schlussakt grenzt Lindner sich erneut klar von der Union ab. So habe der frühere Kanzleramtsminister Helge Braun gesagt, die Schuldenbremse müsse außer Kraft gesetzt werden. "Dieser Alternative kann ich nicht nähertreten." Den Grünen dagegen bietet er unter Verweis auf eine Interviewäußerung des baden-württembergischen Finanzministers Danyal Bayaz an, noch einmal über die Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen zu reden.
Auch im Epilog bekommt die Union einen Seitenhieb mit. Im Bundestag sprächen ihre Redner häufig von der "linksgelben Koalition". Dann "würde ja hier in Baden-Württemberg Links-Schwarz regieren", merkt Lindner spitz an. "Hoffnung" setze er in den designierten CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, behauptet Lindner. Er hat aber auch hier ein paar Fragen an die Union: Werde sie Kompromisse der FDP anprangern, werde sie nun fordern, was sie 16 Jahre nicht durchsetzen konnte? Oder sei "ein echtes Zukunftsgespräch" mit der Union möglich? Wirklich hoffnungsvoll klingt das nicht. Die FDP jedenfalls habe kein Interesse, "sich von CDU und CSU zu entfremden" - schon mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen nicht, nach denen Schwarz-Gelb in NRW und Jamaika in Schleswig-Holstein fortgeführt werden sollten.
Sowohl Christdemokraten als auch Sozialdemokraten und Grüne seien Mitbewerber, aber auch potenzielle Partner, sagt Lindner. Kurzum: Es mache einen Unterschied, "ob Freie Demokraten Mitverantwortung tragen oder nicht". Das ist der Kern seiner ganzen Erzählung. Der alte Lindner-Spruch, es sei besser nicht zu regieren als falsch zu regieren, hat definitiv ausgedient.
Quelle: ntv.de