Politik

Die Grenzen des Luftkriegs "Kampfjets werden diesen Krieg nicht entscheiden"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Kampfflugzeuge vom Typ Gripen. Berichten zufolge bildet Schweden bereits ukrainische Soldaten an dem Jet aus.

Kampfflugzeuge vom Typ Gripen. Berichten zufolge bildet Schweden bereits ukrainische Soldaten an dem Jet aus.

(Foto: picture alliance/dpa/CTK)

Sowohl die Ukraine als auch Israel wurden überfallen und wehren sich gegen einen Aggressor, doch beide führen sehr unterschiedliche Kriege. Das gilt gerade mit Blick auf den Einsatz der Luftwaffe: Die Ukraine hofft auf Kampfjets, die israelische Luftwaffe dagegen gilt als eine der besten der Welt. Der britische Militärexperte Frank Ledwidge hat ein Buch über Luftkriege geschrieben. Er sagt: "Kontrolle über die Luft ist wichtig, aber noch wichtiger ist es, sicherzustellen, dass man die Luftüberlegenheit nicht dem Feind überlässt."

ntv.de: Das vergangene Jahrhundert habe gezeigt, dass Erfolg in einem Krieg unwahrscheinlich ist, wenn militärische Mittel ohne Fähigkeiten in der Luft eingesetzt werden, schreiben Sie in Ihrem Buch über Luftkriege. Was bedeutet das für die ukrainische Armee und ihren Abwehrkrieg gegen Russland?

Frank Ledwidge: Ich denke, wir - mich eingeschlossen - haben dazu geneigt, unsere eigenen Perspektiven auf Russland zu übertragen.

Frank Ledwidge ist Jurist und ehemaliger Offizier der britischen Armee. Er lehrt Militärgeschichte, -strategie und -recht an der Universität von Portsmouth. Als Anwalt mit dem Schwerpunkt Menschenrechte arbeitete er unter anderem auf dem Balkan, in Afghanistan und in der Ukraine. Sein Buch "Aerial Warfare" erschien 2020 in der Reihe "Very Short Introductions" der Oxford University Press.

Frank Ledwidge ist Jurist und ehemaliger Offizier der britischen Armee. Er lehrt Militärgeschichte, -strategie und -recht an der Universität von Portsmouth. Als Anwalt mit dem Schwerpunkt Menschenrechte arbeitete er unter anderem auf dem Balkan, in Afghanistan und in der Ukraine. Sein Buch "Aerial Warfare" erschien 2020 in der Reihe "Very Short Introductions" der Oxford University Press.

(Foto: privat)

Das müssen Sie erklären.

Zu Beginn des Krieges gingen wir im Westen davon aus, dass Russland versuchen würde, die ukrainische Luftwaffe vollständig zu zerstören, und dass vorher kein russischer Soldat die Grenze überschreiten würde. So sind sie aber nicht vorgegangen, und zwar, weil Russland eine andere Sicht auf die Luftwaffe hat. Sie betrachten die Luftwaffe eher als Unterstützung der Kräfte auf dem Boden, nicht als gleichwertig. Das ist ein ganz anderer Ansatz als derjenige der NATO. Wir sehen die Luftwaffe als primären Arm unserer Streitkräfte, der den Weg bereitet und die Rahmenbedingungen auf dem Schlachtfeld vorbereitet. Angehörige der anderen Teilstreitkräfte innerhalb der NATO sind da vielleicht anderer Meinung, haben Einwände gegen diese Position oder würden zumindest Kommentare abgeben wollen. Aber im Wesentlichen ist das die Vorstellung der NATO von der Luftwaffe.

Und die Ukrainer?

Ich denke, die Ukrainer haben angefangen, die Dinge ähnlich wie die NATO zu sehen. Das gilt vielleicht nicht für die ukrainische Armee, aber viele Ukrainer gehen davon aus, dass Kampfjets wie die F-16 und der schwedische Gripen, die sie bekommen sollen, einen entscheidenden Unterschied machen werden. Meiner Ansicht nach werden sie das nicht. Der Krieg in der Ukraine zeigt aus meiner Sicht die absolut zentrale Rolle bodengestützter Luftverteidigungssysteme. Seit dem Zweiten Weltkrieg, schon seit dem letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs, wurde die große Mehrheit der im Kampf abgeschossenen Flugzeuge vom Boden aus abgeschossen. Dieses Muster ist im Laufe der Jahrzehnte immer deutlicher geworden und erreicht in der Ukraine derzeit seinen Höhepunkt.

ANZEIGE
Aerial Warfare: A Very Short Introduction (Very Short Introductions)
16
9,99 €
Zum Angebot bei amazon.de

Inwiefern?

Im Kern verwehren im Krieg in der Ukraine beide Seiten der jeweils anderen Luftwaffe den Zugang zum Schlachtfeld, indem sie sehr leistungsfähige bodengestützte Luftverteidigungssysteme einsetzen.

Und Sie glauben, dass die F-16 oder andere Arten von Kampfflugzeugen für die Ukraine nicht so wichtig sind?

Sie werden nicht entscheidend sein. Sie sind nützlich, aber bei den Zahlen, die die Ukrainer voraussichtlich bekommen werden, werden sie sicher nicht ausschlaggebend sein.

Wenn Bundeskanzler Scholz nach den deutschen Taurus-Marschflugkörpern gefragt wird, sagt er meist, Flugabwehrsysteme wie Patriot seien viel wichtiger. Würden Sie ihm da recht geben?

Ja, ich denke, das ist völlig richtig. Dies geht auf das zurück, was ich über die Bedeutung der bodengestützten Luftverteidigung gesagt habe: Es geht in diesem Krieg darum, dem Feind den Zugang zum Luftraum möglichst zu verwehren. Insbesondere geht es der Ukraine darum, die Zivilbevölkerung vor den Folgen des russischen Bombenterrors zu schützen. Die Ukraine muss verstehen, dass sie in der Defensive steht. Ich glaube nicht, dass sie das schon verinnerlicht hat, aber ich denke, der Kanzler hat recht.

Ist es denn möglich, einen Krieg zu gewinnen, ohne Luftüberlegenheit zu erlangen?

Nun, die Taliban und die Aufständischen im Irak hatten keine Luftüberlegenheit und sie haben ihre Kriege gewonnen. Daher würde ich sagen, dass es durchaus möglich ist, einen Krieg ohne Luftüberlegenheit zu gewinnen.

Die Ukraine führt allerdings keinen Aufstandskrieg. Es ist eher ein traditioneller Krieg.

Das stimmt, aber die Ukraine hat die Kontrolle über die Luft nicht verloren. Wäre dies der Fall, dann wäre sie in ernsthaften Schwierigkeiten. Stattdessen setzt die Ukraine sehr effektiv Drohnen und andere unbemannte Systeme ein, um ihren Mangel an Flugzeugen wettzumachen. Was wir in der Ukraine sehen, ist gegenseitige Luftverweigerung. Das ist ziemlich neu, das gab es, wenn überhaupt, schon lange nicht. Keine Seite kann Luftüberlegenheit erreichen. Das zeigt: Kontrolle über die Luft ist wichtig - aber noch wichtiger ist es, sicherzustellen, dass man sie nicht dem Feind überlässt.

Ist es umgekehrt möglich, einen Krieg nur durch Luftkrieg zu gewinnen?

Nein. Es gibt zwei Fälle, die normalerweise angeführt werden, um zu argumentieren, dass ein Krieg nur mit der Luftwaffe gewonnen werden kann: der Erste Irakkrieg im Jahr 1991, bei dem die Luftangriffe der Alliierten der Hauptgrund für die Zerstörungen auf Seiten der irakischen Streitkräfte war. Und der Krieg im Kosovo 1999, als die NATO den serbischen Präsidenten Milošević zwang, seine ethnischen Säuberungen einzustellen. Beide Kriege wurden aber nicht allein aus der Luft geführt. Im Ersten Irakkrieg musste der Sieg durch Bodentruppen gefestigt werden. Und im Kosovo-Krieg war im Wesentlichen das Gleiche der Fall, denn das Vorgehen der NATO beinhaltete letztlich auch den Einsatz von Bodentruppen.

Sie haben bereits darauf hingewiesen, dass Aufstandskriege nicht aus der Luft zu gewinnen sind. Was bedeutet das für den aktuellen Krieg Israels gegen die Hamas?

Die Israelis würden mit Sicherheit nicht sagen, dass die Luftwaffe den Krieg gegen die Hamas gewinnen kann. Ganz im Gegenteil: Strategisch kann der Einsatz der Luftwaffe sogar kontraproduktiv für sie sein.

Kontraproduktiv?

Es hängt davon ab, wie sie die Luftwaffe einsetzen. Wenn Israel seine Luftstreitkräfte in offenkundig wahlloser Weise einsetzen würde - und ich glaube nicht, dass sie das bisher getan haben -, dann würden sie vielleicht auf taktischer Ebene gewinnen. Aber politisch würden sie den Krieg verlieren.

Der Krieg zwischen Israel und der Hamas zeigt also einmal mehr, dass Luftkriege ihre Grenzen haben?

Genau.

Sie sind nicht nur Experte für Luftkriege, sondern auch Jurist mit einem Schwerpunkt auf dem humanitären Völkerrecht. Was bedeutet es, wenn sich in einem Krieg eine Seite an das Recht gebunden fühlt, für die andere der Rechtsbruch aber geradezu im Zentrum der Strategie steht?

Das bedeutet, dass diese Seite vor große Herausforderungen gestellt wird. Eine der Hauptwaffen der Hamas ist - neben dem Tunnelsystem - die politische Wirkung ziviler Opfer. Wir haben es hier mit einem Informationskrieg zu tun, der den Bodenkampf überlagert.

Ich war immer der Auffassung, dass die Einhaltung des humanitären Völkerrechts nicht nur eine Frage der Ethik ist, des "Wir sind besser als sie". In einer Welt, in der Information und Propaganda eine große Rolle spielen, ist es auch eine ganz praktische Frage. Deshalb bin ich sicher, dass die israelischen Kommandeure unter großem Druck stehen, die schrecklichen Folgen des Krieges für die Zivilbevölkerung möglichst gering zu halten - schon um den Schaden für Israel zu verringern. Wie für die Ukraine ist die Unterstützung der USA für Israel von entscheidender Bedeutung. Würde diese wegfallen, wäre Israel am Ende. Ich glaube nicht, dass dieses Risiko wirklich besteht, aber schon eine Verringerung der US-Unterstützung hätte gravierende Folgen. Deshalb bin ich sicher, dass jedem israelischen Kommandeur gesagt wird, dass jeder getötete Zivilist ein Schlag gegen Israel ist.

Ist es überhaupt möglich, einen Krieg gegen einen besonders rücksichtslosen Feind zu gewinnen?

Das hängt davon ab, wie man "gewinnen" definiert. Israel will mit Sicherheit das militärische und das Regierungspotenzial der Hamas zerstören. Ist dieses Ziel gefährdet, wenn Israel das humanitäre Völkerrecht offenkundig nicht einhält? Ich würde sagen: Ja, wenn dies so deutlich geschieht, dass es nicht zu leugnen oder nur sehr schwer zu verteidigen ist. Die Hamas hat Israel eine Falle gestellt, und Israel ist direkt hineingetappt. Aber ihnen blieb auch keine andere Wahl. Die Hamas - nicht das palästinensische Volk - ist für Israel eine existenzielle Bedrohung.

Kehren wir zur Ukraine zurück. Glauben Sie an die Zusicherungen westlicher Staats- und Regierungschefs von Olaf Scholz über Rishi Sunak bis zu Joe Biden, dass sie die Ukraine unterstützen werden, "as long as it takes" - so lange, wie es notwendig ist?

Absolut nicht. Wir sehen die politischen Beschränkungen, denen Biden und in geringerem Maße auch Scholz, Sunak und die anderen unterworfen sind. In Europa gibt es zudem praktische Beschränkungen; in Deutschland wahrscheinlich weniger als in Großbritannien. Aber grundsätzlich ist Europa dadurch eingeschränkt, dass nicht mehr viel da ist, das geliefert werden könnte. In den Vereinigten Staaten ist das nicht der Fall - die USA könnten viel mehr liefern, sowohl Panzer als auch Patriot-Systeme. Ihnen fehlt der politische Wille. Jedenfalls sehe ich dort kein echtes Engagement, um der Ukraine zu einem Sieg zu verhelfen, wie sie ihn definiert.

Der zweite Grund ist: Was ist die Definition von "es" in "solange es dauert"? Ich glaube beispielsweise keine Sekunde, dass die Vereinigten Staaten einen ukrainischen Bodenangriff auf die Krim befürworten würden. Ist das also ein Teil des "Es"? Nein. "Es" bedeutet: Soweit wir zu gehen bereit sind. Diese Bereitschaft unterliegt internen Zwängen und externen Realitäten, wie etwa der Möglichkeit, dass Putin zu Atomwaffen greifen könnte, wenn die Krim von der Ukraine zurückerobert würde.

Heißt das, Putins Strategie wird am Ende funktionieren: auf Zeit zu spielen, weil er davon ausgeht, dass der Westen die Unterstützung der Ukraine nicht durchhält?

Auf strategischer Ebene sieht es so aus, da es bei den Kämpfen eine Pattsituation zu geben scheint und man nicht davon ausgehen kann, dass die Ukraine größere Geländegewinne erzielt, da der Westen das Ausmaß seiner Waffenlieferungen beschränkt. Was Großbritannien betrifft, bin ich mir ziemlich sicher, dass wir keine nennenswerten Waffen mehr haben, die wir der Ukraine geben könnten. In Deutschland mag das etwas anders sein, aber im Großen und Ganzen läuft es nach dem gleichen Muster. Auf Zeit zu spielen, könnte aus Putins Sicht zwar dazu führen, dass die Ukraine weiter gestärkt wird, aber auch Russland würde in dieser Zeit stärker. Deshalb sehe ich kein anderes realistisches Szenario als einen ausgedehnten Krieg, wie wir ihn schon bisher gesehen haben.

Mit Frank Ledwidge sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen