Politik

"Anne Will" Hat Yücels Freiheit ein Preisschild?

Wills Gäste: Ulf Poschardt, Peter Steudtner, Norbert Röttgen, Michael Roth und Sevim Dağdelen (v.l.).

Wills Gäste: Ulf Poschardt, Peter Steudtner, Norbert Röttgen, Michael Roth und Sevim Dağdelen (v.l.).

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Es habe keinen Deal gegeben, diktierte Bundesaußenminister Gabriel nach der überraschenden Freilassung Deniz Yücels am vergangenen Freitag in die Mikrofone. Die Talkrunde bei "Anne Will" ist am Sonntagabend durchaus anderer Meinung.

Deniz Yücel ist frei. Endlich, nach 367 Tagen in türkischer Untersuchungshaft. Genauso unvermittelt und scheinbar grundlos, wie er vor mehr als einem Jahr verhaftet worden war. Auch deshalb drängen sich nach der ersten Euphorie über die Freilassung des "Welt"-Journalisten ein paar unangenehme Fragen auf: War Yücel lediglich ein Faustpfand Recep Tayyip Erdoğans, um der Türkei im machtpolitischen Poker einen Vorteil zu verschaffen? Und ging die Bundesregierung am Ende darauf ein und schloss einen Deal mit dem türkischen Präsidenten, um Yücel auszulösen?

Bei "Anne Will" diskutieren am Sonntagabend der Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner, "Welt"-Chefredakteur Ulf Poschardt, Norbert Röttgen (CDU), Michael Roth (SPD) und Sevim Dağdelen von den Linken über die möglichen Hintergründe von Yücels Freilassung - und über die Konsequenzen für die deutsch-türkischen Beziehungen.

Bundesaußenminister Sigmar Gabriel hatte mehrfach betont, dass es "keinen Deal" in irgendeiner Form gegeben habe. So ganz glauben möchte das in der Runde wohl niemand, auch wenn die Politiker der regierenden Parteien sich geschickt um eine klare Antwort auf die Frage drücken und lieber von einer "Sprachregelung" reden. Eine, auf die man sich einigen kann, ist auch die sehr diplomatische Version von Yücels Chefredakteur Poschardt: "Für Deniz wäre es schrecklich, zu erfahren, dass es für seine Freilassung eine Gegenleistung in irgendeiner Form gegeben hätte. Er hat unmissverständlich gesagt, er würde nicht kommen, wenn es einen Deal gäbe. Und ich bin überzeugt, dass er das durchgezogen hätte. Ich muss und werde und will den Worten des Bundesaußenministers deshalb glauben."

"In der Politik ist vieles so dehnbar"

Ganz andere Worte findet dagegen Dağdelen: "Ich kann mir schwer vorstellen, dass jemand wie Erdogan, der selbst öffentlich immer gesagt hat, eine Freilassung gibt es nur gegen eine Gegenleistung, das aus Liebe zur Humanität gemacht hat." Denn "es wäre nicht das erste Mal, dass Mitglieder Bundesregierung besonders glaubhaft wären, wenn es um Rüstungsexporte und Ähnliches geht. In der Politik ist vieles so dehnbar, dass ich ja noch nicht mal sagen will, er (Gabriel, Anm. d. Red.) hat gelogen."

Die Frage nach den tatsächlichen Ereignissen wird sich ohne Einblick in die Hinterzimmergespräche wohl bis auf Weiteres nicht klären lassen, die Konsequenzen für den weiteren Umgang mit der Türkei scheinen indes klar. "Wir geben uns im Auswärtigen Amt keinen Illusionen hin: Die Türkei ist im Jahr 2018 meilenweit von einem Rechtsstaat nach europäischem Maßstab entfernt", sagt Michael Roth, der für die SPD als Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt sitzt. "Deshalb sind die Wahlen im Jahr 2019 unser stärkstes Einflussinstrument: Wir müssen den Menschen in der Türkei aufzeigen, dass sie sich selbst den Weg in die Zukunft versperren, wenn sie Erdoğan wählen."

Trotzdem, und das sei die Schwierigkeit, dürfe man die Brücken zur Türkei nicht ganz abbrechen, denn "hier in Deutschland leben drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln. Wir brauchen die Gespräche mit der türkischen Regierung, um die Stimmung nicht noch weiter zu vergiften", so Roth weiter. Besser früher als später müsse man allerdings die deutsche Außenpolitik von Grund auf neu denken, findet Peter Steudtner, und Waffenexporte und Ähnliches generell verhindern. Denn "so wie wir heute handeln, begeben wir uns selbst in die moralischen Dilemmata hinein, die wir andernfalls problemlos vermeiden könnten." Dafür erntet der Aktivist, der selbst mehr als vier Monate in türkischer Haft saß, donnernden Applaus - zumindest das Studiopublikum wäre also für den pazifistischen Ansatz zu haben.

Quelle: ntv.de

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