Wahlen in Europa und im Osten Im kommenden Jahr droht ein politisches Beben
26.12.2023, 18:54 Uhr Artikel anhören
Die AfD kontrolliert Höcke seit Jahren 2024 will er auch in Thüringen die Macht übernehmen.
(Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild)
Das Jahr 2024 könnte die politische Landschaft in Deutschland erschüttern. Im Mittelpunkt: Landtagswahlen in drei ostdeutschen Ländern. Die AfD hofft auf Wahlerfolge, die Ampel steht vor schwierigen Zeiten und die Union vor einer Entscheidung.
"Das nächste Jahr ist das Jahr der AfD", sagte der Publizist Michel Friedman unlängst bei den Frankfurter Römerberggesprächen. Mit Sorge blickt er Richtung Ende der 2020er-Jahre - Friedman befürchtet, dass dann vielleicht auf Bundesebene erste Gedankenspiele über Koalitionen mit der Rechtspartei salonfähig werden könnten. Das kommende Jahr sieht er als Teil einer möglichen Entwicklung dorthin.
Die seit Monaten hohen Umfragewerte für die AfD wirken wie Vorbeben. Die Wiederholung der Bundestagswahl am 11. Februar in einigen Berliner Wahlbezirken dürfte lediglich kleinere Verschiebungen bringen, keine Veränderung der Machtverhältnisse. Ein stärkeres Signal wird wohl von der Europawahl und diversen Kommunalwahlen im Juni ausgehen. Der große Knall könnte im September folgen, sollte die AfD in Sachsen, Thüringen und Brandenburg zum ersten Mal seit ihrer Gründung als Siegerin aus einer oder gar mehreren Landtagswahlen hervorgehen. Das Wahljahr 2024 steht somit ganz im Zeichen der Frage, ob der Höhenflug der AfD anhält - oder die anderen Parteien ihn stoppen können.
Nun kann bis zu den Wahlen im Osten noch viel passieren, die politische Großwetterlage kann sich schnell ändern - und auch eine neue Konkurrenz von links könnte der AfD Wähler abspenstig machen. Wie immer hängt alles mit allem zusammen. Vor allem sechs Ereignisse dürften in der Summe für ein innenpolitisch besonders turbulentes Jahr sorgen:
Januar: Gründung der Wagenknecht-Partei
Gleich zum Jahresbeginn will die ehemalige Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht die deutsche Politik mit der Gründung einer neuen Partei aufmischen. Mit scharfer Opposition zur Wirtschafts-, Klima- und Transformationspolitik der Ampel und mit restriktiver Migrationspolitik will die 54-Jährige auch der AfD Wähler abwerben. Diejenigen, die auch aus Wut darüber nachdächten, AfD zu wählen, sollten eine seriöse Adresse bekommen, sagt Wagenknecht. Es gehe darum, eine politische Leerstelle im Land zu füllen.
Politikwissenschaftler bescheinigen einer Wagenknecht-Partei ein recht großes Potenzial vor allem im Osten. Wird sie den Höhenflug der AfD stoppen? Parteichef Tino Chrupalla sagte dem ZDF, er habe "keine Angstperlen auf der Stirn". Im Januar wollen sich Wagenknecht und Unterstützer in Berlin zum Gründungsparteitag treffen.
Februar: Entscheidung zur Geheimdienst-Beobachtung der AfD
Im Februar geht es in Münster um eine wichtige juristische Frage, die ebenfalls Einfluss auf den Zuspruch für die AfD haben könnte: Das Oberverwaltungsgericht muss klären, ob der Verfassungsschutz die Partei bundesweit als rechtsextremistischen Verdachtsfall einstufen und entsprechend geheimdienstlich beobachten darf, um festzustellen, ob es tatsächlich Bestrebungen gibt, die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Landes zu untergraben. In der Vorinstanz hatte der Inlandsgeheimdienst recht bekommen. Das Verwaltungsgericht Köln hatte festgestellt, es gebe hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen der Partei.
Die AfD hatte Berufung eingelegt. Unabhängig davon, wie die Entscheidung jetzt ausfällt, wird die Partei versuchen, Anhänger damit zu mobilisieren: im Erfolgsfall in Siegerpose gegenüber einem aus ihrer Sicht instrumentalisierten Verfassungsschutz, bei einer Niederlage als vermeintliches Opfer staatlicher Drangsalierung. Klar ist allerdings schon, dass die Zeiten vorbei sind, in denen die AfD fürchten musste, dass eine offizielle Feststellung als rechtsextrem ihr schadet.
Juni: Europawahl und Kommunalwahlen
Der 9. Juni, in Deutschland Tag der Europawahl, wird zeigen, wie die Stimmungslage im Land ist. Schrumpft die Wählerzustimmung für die Ampel weiter, droht der Dauerschwelbrand über Kurs und Prioritäten dieser Regierung vor allem zwischen FDP und Grünen erneut aufzuflammen. Schon jetzt fühlt sich die FDP mit schwindendem Wählerzuspruch immer unwohler in diesem Bündnis, kann es aber schlecht platzen lassen, weil sie bei einer Neuwahl laut Umfragen aus dem Bundestag fliegen könnte.
Der 9. Juni wird auch der erste Testlauf für Wagenknechts neue Partei. Kann sie aus dem Stand so viele Wähler gewinnen, dass das Projekt trägt, oder geht ihm nur wenige Monate nach der Gründung schon die Luft aus? Sie hofft auf ein zweistelliges Ergebnis.
Doch nicht nur die Europawahl wird ein Fingerzeig. Am selben Tag und zum Teil auch schon davor werden in acht Bundesländern, darunter in allen fünf ostdeutschen Ländern, Kreistage, Gemeindevertretungen und Bürgermeister gewählt. Kommunalpolitiker sind nicht für Migration, Inflation, Klima und Energie zuständig, doch die Bundesthemen könnten durchschlagen - und die AfD versucht, sich in den Kommunen weitere Ämter zu sichern, wie zuletzt schon vereinzelt geschehen.
September: Landtagswahlen
Am 1. September könnte Deutschland - ausgeruht nach Sommerpause und Strandurlaub - schließlich ziemlich hart auf dem Boden der politischen Tatsachen landen. In Sachsen und Thüringen werden neue Landtage gewählt, am 22. September ist Brandenburg dran. In Umfragen lag die AfD zuletzt in allen drei Ländern mit zum Teil deutlich über 30 Prozent klar vorn. Es wäre das erste Mal, dass die AfD eine Landtagswahl gewinnt. Zwar sind Umfragen nur Momentaufnahmen und keine Prognosen auf den Wahlausgang, dennoch spricht die Partei bereits öffentlich von absoluten Mehrheiten und einem Ministerpräsidenten Höcke in Thüringen.
Mit den derzeitigen Werten erscheint das unwahrscheinlich, weil es bei der Bildung einer Regierung nicht darauf ankommt, welche Partei im Parlament die größte Fraktion stellt, sondern wer eine Mehrheit zustande bringt.
Experten zufolge ist aber nicht völlig auszuschließen, dass die AfD an die Macht kommt. Legt sie noch mehr zu und die Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde, könnte es knapp werden. Diese Möglichkeit deutete sich zumindest für Sachsen in einer Insa-Umfrage im Sommer an. Die beiden verbliebenen Parteien CDU und Linke müssten dann zusammen auf mehr Stimmen kommen, um die Wahl eines AfD-Ministerpräsidenten im Landtag verhindern zu können. Noch nicht eingepreist ist hier aber, welchen Effekt die geplante Wagenknecht-Partei hätte.
Klar ist allerdings auch, dass eine Regierungsbildung mit einer starken AfD im Landtag schwierig bis unmöglich werden könnte - wie ja bisher schon in Thüringen, wo der von der CDU faktisch tolerierte linke Ministerpräsident Bodo Ramelow weiterhin im Amt ist, obwohl seine Koalition keine Mehrheit hat. Schon jetzt zerbrechen sich einige die Köpfe über solche Szenarien - und über bisher nicht gekannte Kooperationen zwischen CDU und Linken: "Wenn es tatsächlich um die bis heute rein fiktive Situation geht, dass es mit CDU, AfD und Linken nur noch drei Fraktionen in Sachsens Landtag gibt, glaube ich, dass vielen Mitgliedern meiner Partei zu vermitteln ist, dass die AfD hier nichts zu entscheiden haben darf", sagte Sachsens Linksfraktionschef Rico Gebhardt im Oktober der "Sächsischen Zeitung".
Einen AfD-Ministerpräsidenten gemeinsam verhindern wäre das eine, aber was dann? Wer soll regieren und mit wem, wenn sich keine Mehrheiten mehr finden? Die CDU hat eine Regierungszusammenarbeit mit der Linken genauso ausgeschlossen wie mit der AfD.
Die Landtagswahlen im Osten haben auch das Potenzial, Schockwellen ins Ausland zu senden. Das internationale Echo dürfte groß sein, wenn zum ersten Mal nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der größten Volkswirtschaft Europas eine radikal rechte Partei stärkste Kraft wird. Gewinnt die AfD die Landtagswahlen auf Kosten der Ampel-Parteien, wird in Berlin auch die Frage wieder aufkommen, ob diese Koalition noch trägt. Allerdings dürfte auch der Durchhaltewille wachsen, je näher die Bundestagswahl 2025 rückt. Zumal vorgezogene Neuwahlen kurz vor dem regulären Termin kaum sinnvoll sind.
Spätsommer/Herbst: Kanzlerkandidatur der Union
Rund um die Landtagswahlen, im Spätsommer 2024, soll auch die wichtigste Entscheidung des Jahres bei der Union fallen. CDU und CSU wollen dann die Frage der Kanzlerkandidatur beantworten und damit, wer bei der nächsten Bundestagswahl Herausforderer von Kanzler Olaf Scholz wird. Der genaue Termin steht noch nicht fest. CSU-Chef Markus Söder würde gerne den Urnengang im Osten abwarten. Das würde allerdings die Frage, ob es CDU-Chef Friedrich Merz wird, mit diesen Wahlergebnissen verknüpfen: Schafft Merz es, seine Partei auf stabilem Niveau zu halten oder sogar Zugewinne zu verbuchen, ist ihm die Kür in der K-Frage so gut wie sicher.
Verliert die CDU im Osten spürbar, könnte die Stunde der Konkurrenten schlagen: Söder oder die Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, Hendrik Wüst und Daniel Günther, die für den milderen Mitte-Kurs stehen. Die interne Debatte darüber, ob dieser oder der knallige Merz-Kurs besser bei den Wählern zieht und Stimmen für die AfD verhindert, ist noch nicht entschieden.
November: Wiederwahl von Trump?
Die US-Präsidentschaftswahl am 5. November 2024 wird nicht nur außenpolitisch eines der wichtigsten Ereignisse des Jahres. Sollte der Republikaner Donald Trump erneut zum Präsidenten gewählt werden, hätte das auch Einfluss auf die deutsche Innenpolitik und wohl auch auf den Umgang mit der AfD. Die Rechten würden Rückenwind für sich und ihr Argument reklamieren, dass überall im Westen die Gegenbewegung zum, wie sie es nennen, "linksgrünen Mainstream" die Oberhand gewinne.
Gemutmaßt wird außerdem, dass unter Trump die US-Unterstützung für die Ukraine zurückgeschraubt werden könnte, was dem russischen Machthaber in die Hände spielen würde. Ob die Europäer dauerhaft ohne die USA genug Unterstützung für die Ukraine leisten können und wollen, um Putins Expansionsbestrebungen entgegenzutreten, ist fraglich. Auch das wäre im Interesse der AfD, die von Anfang an dafür plädiert hat, sich herauszuhalten und von Russland weiter billig Öl und Gas zu kaufen.
Bei seiner Sommerpressekonferenz im Juli wurde Kanzler Scholz auch nach der Stärke der AfD gefragt. Seine Antwort damals: "Ich bin ganz zuversichtlich, dass die AfD bei der nächsten Bundestagswahl nicht viel anders abschneiden wird als bei der letzten." Das war im Herbst 2021. Damals kam sie auf 10,3 Prozent. Ihre bundesweiten Umfragewerte sind momentan doppelt so hoch.
Quelle: ntv.de, hvo/dpa