Austausch von 162 Enklaven Indien und Bangladesch legen Grenzstreit bei
01.08.2015, 11:17 Uhr
In der Grenzregion zwischen Indien und Bangladesch liegen 162 Enklaven.
(Foto: picture alliance / dpa)
Seit mehreren Jahrzehnten belastet der Grenzstreit das Verhältnis zwischen Indien und Bangladesch. Nun legen beide Länder den Konflikt bei. Sie tauschen die jeweiligen Enklaven und stellen 54.000 Menschen vor die Wahl, welcher Nation sie fortan angehören wollen.
Der 105-jährige Mohammed Asghar Ali hat in seinem Leben schon zweimal den Tag der Unabhängigkeit gefeiert. Im Jahr 1947, als sich Indien von Großbritannien löste, und 1971, als Bangladesch von Pakistan losbrach. Nun erlebt Ali das dritte Mal einen Unabhängigkeitstag. Dann hisse er die Flagge Indiens über seinem Haus, sagt der Greis und zeigt ein zahnloses Lächeln unter seiner ausgebleichten muslimischen Kopfbedeckung.
Dieses Mal werde er "wahre Freiheit" bekommen, hofft Ali. Eine Freiheit nämlich, die auch eine Staatsbürgerschaft mit sich bringt. Seit 68 Jahren ist Ali - wie rund 54.000 weitere Südasiaten - staatenlos. Sie leben in 162 Enklaven, die in der Grenzregion zwischen Indien und Bangladesch im jeweils anderen Staatsgebiet liegen, völlig umschlossen vom Nachbarland. Im Juni ratifizierten die Regierungen beider Länder endlich einen Vertrag, der die 4096 Kilometer lange Grenze glattzieht.
Es ist ein Grenzstreit weniger für Indien, das sich sonst mit seinen Nachbarn in Sachen Grenze nicht so grün ist. Unendlich scheint der Streit um Kaschmir, das sowohl Indien als auch Pakistan vollständig für sich beanspruchen. Jedes Jahr wird Hunderte Male an der Kontrolllinie zwischen den Atommächten geschossen.
Auch der Himalaya-Grenzverlauf zu China ist unklar; und mit Nepal und den Malediven gibt es Dispute. Streitigkeiten gibt es auch in anderen Teilen der Welt: zwischen Chile und Argentinien, Russland und der Ukraine, Slowenien und Kroatien, Spanien und Marokko. Die Liste ist lang. Indien und Bangladesch sind eine Ausnahme. "Dass so ein beträchtlicher Austausch von Land völlig ohne Blutvergießen über die Bühne geht, ist sehr ungewöhnlich", sagt Diptiman Sengupta, der als Aktivist für den Austausch der Enklaven gekämpft hat.
Gefangene im eigenen Land
Die Bewohner konnten sich aussuchen, in welchem der beiden Länder sie fortan leben wollen. Ali wird Inder. "Bislang war ich ein Gefangener in meinem eigenen Land", erzählt er von seiner fast sieben Jahrzehnte andauernden Tortur als Staatenloser. Sein Blechhaus steht in der Moshaldanga-Enklave, neben saftig grünen Reis- und Jutefeldern - aber bislang hinter einem Zaun.
Da die Enklaven-Bewohner vom Rest des Landes abgeschnitten waren, hatten sie kaum Zugang zu ihrer Regierung, und diese nicht zu ihnen. Sie konnten nicht verreisen oder legal außerhalb ihrer Enklaven arbeiten, hatten keine Schulen, keine Krankenhäuser, kein fließend Wasser und keinen Strom. Die meisten der Bewohner sind sehr arm, leben von dem, was sie anbauen - und wissen sich sonst oft nur auf illegalem Weg zu helfen.
Alis Enkel Joynal Abedin sagt, er habe falsche Namen und Adressen verwendet, um in eine indische Schule aufgenommen zu werden. Familie zählt viel in Südasien - und sie zu verleugnen ist moralisch äußerst verwerflich. "Es ist die schlimmste Form der Demütigung, einen anderen Mann als seinen Vater oder Ehemann anzugeben, um sich eine Identität zu beschafften", sagt Abedin.
Hohe Kriminalitätsraten
Jabbar Sheikh erzählt, dass er und vier weitere Männer festgenommen wurden und drei Jahre im Gefängnis saßen, weil sie unrechtmäßig nach Indien eingedrungen waren. Sie seien wie Verbrecher behandelt worden, dabei hätten sie sich in der nahe gelegenen Stadt Dinhata im Krankenhaus behandeln lassen wollen, sagt er.
Viele Bewohner berichten von hohen Kriminalitätsraten wegen der fehlenden Polizei in den kleinen Territorien. Sogar Leichen würden von Kriminellen im Quasi-Niemandsland abgeladen - hier untersuche die Fälle niemand. Nun gehe es darum, die Regierungen in Dhaka und Neu Delhi dazu zu bringen, die vernachlässigten Landstriche zu entwickeln, sagt Anukul Roy, Chef der Enklave Kuchlibari. Das sei "die nächste Phase unseres Kampfes". Der 79-jährige Mohammad Ali aus der Enklave Bhatrigachh meint, sein Leben sei nun ohnehin bald vorbei. "Aber unsere junge Generation hat nun etwas, für das es sich zu leben lohnt."
Quelle: ntv.de, Siddhartha Kumar, dpa