Kiesewetter im Interview "Die Veröffentlichung soll abschreckend auf den Kanzler wirken"
02.03.2024, 08:00 Uhr Artikel anhören
CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter ist nicht überrascht, dass Russland Bundeswehroffiziere abhört. "Wir müssen davon ausgehen, dass die Russen noch mehr Material dieser Art haben", sagt er ntv.de. Russland sammele belastendes Material, um Erpressungspotenzial für Entscheidungsträger im Westen zu haben. Auch die aktuelle Veröffentlichung solle "abschreckend auf den Kanzler wirken". Das habe in der Vergangenheit bereits funktioniert. Kiesewetter ist stellvertretender Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums, das im Bundestag die Arbeit der Geheimdienste überwacht. Er ist außerdem Oberst a.D. der Bundeswehr.
ntv.de: Was ist Ihre Einschätzung zum vom russischen Staatssender veröffentlichten Abhörmitschnitt?
Roderich Kiesewetter: Spionage gehört zum Instrumentenkasten der hybriden Kriegsführung Russlands, daher ist es in keiner Weise überraschend, dass ein solches Gespräch abgehört wurde. Ebenso wenig erstaunlich ist es, dass der Mitschnitt öffentlich wird. Wir müssen davon ausgehen, dass die Russen noch mehr Material dieser Art haben.
Warum jetzt? Um von der Beerdigung von Alexej Nawalny abzulenken?
Das ist möglich, aber ich halte eine andere Erklärung für deutlich wahrscheinlicher. Mit dem Leak will Russland verhindern, dass Deutschland der Ukraine endlich doch die Taurus-Marschflugkörper liefert, die sie so dringend braucht. Bundeskanzler Scholz hat gerade erst deutlich gemacht, dass er beabsichtigt, die Taurus-Lieferung weiter zu blockieren - hat dabei aber offenkundige Falschinformationen benutzt, mit denen er nun unter Druck gerät.
Scholz hatte angedeutet, dass die Bundeswehr bei der Zielsteuerung und der "Begleitung der Zielsteuerung" beteiligt sein müsste, was Experten zurückgewiesen haben. Der Sicherheitsexperte Gustav Gressel sagte beispielsweise, für die Übergabe von Taurus an die Ukraine brauche man keine deutschen Soldaten auf ukrainischem Boden, auch nicht für die Programmierung und die Einführung in das System, das sei Aufgabe des Herstellers.
So ist es. Bundeswehrsoldaten werden nicht benötigt, um den Taurus an die Ukraine zu liefern oder dort einsatzfähig zu machen. Es gibt keine technischen und keine rechtlichen Gründe, die gegen eine Lieferung des Taurus sprechen. Aber durch die bewusst falsche Argumentation des Kanzlers dürfte aus russischer Sicht eine Lieferung des Taurus eher wahrscheinlicher geworden sein. Die wollen sie nun verhindern, indem sie Deutschland eine Beteiligung an der Zielplanung unterstellen. Gleichzeitig soll die Veröffentlichung der Aufnahme abschreckend auf den Kanzler wirken. Das hat in der Vergangenheit bereits funktioniert.
Können Sie Beispiele nennen?
Warum hat der Bundeskanzler im Sommer 2022 auf Nachfrage die mögliche Lieferung von Schützenpanzern Marder als "furchtbare Eskalation" bezeichnet? Warum gab es im Jahr 2022 ein sogenanntes Planungsverbot für Bundeswehr und Industrie für die Bereitstellung von Kampfpanzern Leopard? Warum zog der Bundeskanzler im Januar eine "rote Linie" bei der Lieferung von Kampfjets?
Angenommen, die Aufnahme ist authentisch. Wäre es seltsam, dass Bundeswehroffiziere darüber sprechen, dass die Brücke zwischen der Krim und dem russischen Festland zerstört werden soll?
Die Kertsch-Brücke wird in der öffentlichen Diskussion schon seit Monaten als potenzielles Ziel von Taurus-Marschflugkörpern genannt, es gab ja auch schon mehrere ukrainische Versuche, die Brücke zu zerstören - etwa im Oktober 2022 oder im Sommer 2023. Für die Ukraine wäre die Zerstörung der Brücke ein großer Erfolg, weil damit eine für Russland wichtige Nachschubroute an die Front im Süden der Ukraine abgeschnitten wäre. Es ist also schlicht logisch, dass auch Bundeswehroffiziere in einem Gespräch über den Taurus über die Kertsch-Brücke sprechen. Übrigens wäre der Taurus für die Zerstörung der Brücke tatsächlich hervorragend geeignet.
Aber natürlich will Russland, dass es so aussieht, Deutschland plane bereits eine konkrete Operation. Alles, was Deutschland als aktive Kriegspartei aussehen lässt, ist dazu geeignet, Scholz abzuschrecken.
Das würde bedeuten, die Offiziere wurden nicht abgehört, um Informationen zu sammeln, sondern um Deutschland bloßzustellen?
Es ist beides. Russland geht es bei seiner Spionage natürlich in erster Linie darum, Informationen über militärische Kapazitäten und militärische Fähigkeiten zu bekommen, auch Informationen über die geplante und mögliche Unterstützung der Ukraine. Aber Russland sammelt außerdem grundsätzlich auch belastendes Material, um Erpressungspotenzial für Entscheidungsträger im Westen zu haben. Im Fall des Kriegs gegen die Ukraine kann dieses Material dann genutzt werden, um Waffenlieferungen an die Ukraine zu verhindern, um Entscheidungsträger unter Druck zu setzen oder auch, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Wie umfangreich die russischen Geheimdienstoperationen mittlerweile sind, zeigt der Fall des ehemaligen Wirecard-Chefs Marsalek.
Scholz will den Eindruck vermitteln, dass es ihm vor allem darum geht, Deutschland aus dem Krieg herauszuhalten. Wo ist da das Problem?
Aus russischer Sicht sind wir längst Kriegspartei, und auch Kriegsziel, nämlich Ziel der hybriden Kriegsführung Russlands. In dieser Situation das zu machen, was Russland will, ist das völlig falsche Vorgehen. Wenn Russland in der Ukraine nicht gestoppt wird, ist die Sicherheit Deutschlands und Europas noch viel stärker gefährdet als heute. Wenn die Ukraine verliert, verlieren wir auch. Das ständige Zögern des Bundeskanzlers bei den Waffenlieferungen gefährdet die deutsche und europäische Sicherheit.
Mit Roderich Kiesewetter sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de