Von Schrödingers Solidarität Scholz hebt die Faust - was war da denn los?


"Diplomaten statt Granaten": Scholz beim Bürgerdialog in Dresden.
(Foto: picture alliance/dpa)
Im Bürgerdialog in Sachsen zeigt sich Bundeskanzler Scholz offen und ehrlich - ein seltener Moment. Allerdings geht die Geste auf Kosten der Ukraine. Und sie zeigt: Der Kanzler führt nicht, er wird geführt.
Über ein und dasselbe Ereignis kursieren derzeit zwei verschiedene Geschichten über den Kanzler. Sie haben mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu tun und der Frage, wie Olaf Scholz das Problem angeht. Entstanden sind sie bei einem Bürgerdialog in Dresden. In einem Ausschnitt ist der Kanzler zu sehen, wie er sagt:
"Ja. Diplomaten statt Granaten, das ist der Satz, den wir gemeinsam skandieren Richtung Kreml. Nach Moskau."
Dabei hebt er die linke Faust wie zum kommunistischen Gruß und schwingt sie wie ein Demonstrant. Hm. Was war da denn los?
Liebesgrüße nach Moskau?
Die eine Geschichte geht so: Der Bundeskanzler unterstreicht seine Taurus-Verweigerung und schmiegt sich den Friedensbewegten an. Vielleicht kündigt er sogar die angestrebte Kriegstüchtigkeit auf. Es klingt fast ein wenig wie die ausgestreckte Hand an den Kreml - wie Liebesgrüße nach Moskau.
Die andere Geschichte geht so: Böswillige Menschen haben ein Video unseres geliebten Herrn Bundeskanzlers aus dem Zusammenhang gerissen, dabei hat er doch nur ein harmloses Gespräch mit einem Bürger geführt, wie es das Format Bürgerdialog vorsieht. "Kontext", rief der Regierungssprecher auf X, der Kanzler habe nur zitiert. Viele geben sich geläutert.
Die letztere Geschichte verfängt gerade, weil sie der Weg des geringsten Widerstands ist: "Dekontextualisierung", also das Reißen aus dem Zusammenhang, ist ein Trick der Desinformation. Wenn eine Szene etwas zu unglaublich scheint und jemand sagt "das wurde dekontextualisiert!", dann lehnen wir uns gern beruhigt zurück: Ach so, es ist also doch alles in Ordnung, vergessen wir das Ganze schnell.
Gefährliche Übergabe
Und damit fallen wir wiederum selbst auf einen Trick der Desinformation herein. Das wird klar, wenn man sich den Zusammenhang ansieht - also wirklich: den ganzen Zusammenhang.
Ein Bürger hatte dem Kanzler nämlich im Bürgerdialog einiges an Gegenständen überreicht ("keine Angst!"), darunter ein kleines Steuerrad, den ausgedruckten Amtseid (dafür gab’s in Sachsen Applaus) und, Achtung, eine Pappe mit gelbem Spruchband: "Diplomaten statt Granaten" stand da drauf, das möge der Kanzler der Außenministerin mal überreichen, sagte der Bürger.
Das war ein spannender Moment: Wenn Menschen Politikern vor laufender Kamera Dinge überreichen, ist das nämlich gefährlich. Nicht, weil es Anthrax sein könnte - sondern weil gefährliche Bilder entstehen können.
Was macht er mit dem Zeug?
Die richtige Reaktion ist für Politiker ein Balance-Akt: Sie wirken kalt, wenn sie Gegenstände nicht annehmen, aber man will ja auch nicht am nächsten Tag ein großes Foto mit kompromittierendem Gegenstand in der "Bild"-Zeitung sehen: Was, wenn der Bürger einem eine neunschwänzige Peitsche überreicht oder ein Stalin-Poster? Was also, dachte ich, macht Scholz jetzt mit dem ganzen Zeug?
Der Kanzler steht nicht das erste Mal vor der Kamera. Er kannte die Gefahr offenbar, er nahm nämlich sämtliche Gegenstände geschwind an sich und legte sie sofort mit dem Rücken zur Kamera auf das Pult. So weit, so gut: keine Bilder produziert. Alles richtig gemacht. Hier hätte die Szene enden können und die Moderatorin leitete auch schon zum nächsten Punkt über.
Aber Scholz war noch nicht fertig. Als wäre er Peter Falk als Columbo und "hätte da noch eine Frage", drehte er sich noch einmal um. Er pausierte. Hob die linke Faust. Und sagte: "Ja. Diplomaten statt Granaten, das ist der Satz, den wir gemeinsam skandieren Richtung Kreml. Nach Moskau."
Olaf Scholz, der Friedenskanzler
Und das soll ein spontanes Zitat gewesen sein? Scholz hat selbst wiederholt bekundet, dass er so spricht, wie er spricht, weil ihm davor graust, dass ihm die Worte im Mund herumgedreht werden. Und dann sagt er mit großer Geste diesen Satz - versehentlich? Wir sollten den Kanzler nicht gering schätzen. Es war keine spontane Reaktion. Es war kein Spiegeln des Bürgers. Es war ein Zueigenmachen mit vollem Anlauf. Es war eine strategische Botschaft.
Nun ist der Kanzler, anders als viele seiner Parteifreunde, tatsächlich frei vom Verdacht, ein radikaler Friedensaktivist oder Kremlkuschler zu sein. Deutschland ist einer der stärksten Unterstützer für die Ukraine, wie vor allem Sozialdemokraten verteidigungshalber immer wieder betonen.
Aber der Kanzler macht nicht das erste Mal mit einer ausdrücklichen Friedensbotschaft auf sich aufmerksam. Kürzlich trat er vor die Kamera, um ausdrücklich zu betonen, es werde keine NATO-Truppen auf dem Boden der Ukraine geben. Streit mit Macron. Zugleich irritierte er ohne Not Großbritannien, indem er andeutete, das Land hätte durchaus schon Truppen auf dem Boden der Ukraine. Streit mit dem britischen Premier Sunak. Den einzigen Zweck, den das haben könnte: sich von diesen anderen abzusetzen - als Friedenskanzler.
Aus Schrödingers Solidarität wird Ehrlichkeit
Scholz kennt nämlich seine Pappenheimer. Gerade in Sachsen (wählt übrigens im Spätsommer) sehen viele Menschen die Waffenlieferungen an die Ukraine kritisch - vorsichtig ausgedrückt. Dann gibt es die Friedensbewegten in der SPD, die mit dem linken Auge schon zur Alternative für Sozialdemokraten schielen, der Sahra-Wagenknecht-Partei BSW.
Der Kanzler führt nicht, er wird geführt: Seine Leute verbreiten immer wieder die Erzählung, Scholz wolle sich durch solche Signale die Unterstützung der Bevölkerung sichern. Was sie dabei ausblenden: Wenn der Kanzler nicht mit ganzem Herzen für die Unterstützung der Ukraine trommelt - wie sollen Deutsche dann verstehen, dass es gerade um die Freiheit in Europa geht?
Die Geste im Bürgerdialog war ein Moment der seltenen Ehrlichkeit des Bundeskanzlers. Immer wieder schickte die Bundesregierung gemischte Signale, was die Ukraine angeht: Waffensysteme werden so lange debattiert, bis das militärische Momentum sich in Rauch auflöst, buchstäblich. Dann wird Beistand geschworen. Die Regierungsfraktionen formulieren einen Antrag, der nach Taurus klingt - aber der Kanzler lässt ausrichten, Taurus sei "zwangslogisch" ausgeschlossen.
Scholz leistet Schrödingers Solidarität: Sie ist da und sie ist es nicht. Während des Bürgerdialogs war die Katze tot. Und das Tierchen hat ganz schlechte Aussichten - denn bald wählt der Osten.
Quelle: ntv.de