Auf dem schmalen Grat zwischen Fanatismus und Wahn Ist Breivik schuldfähig oder geisteskrank?
17.04.2012, 18:39 Uhr
Breivik selbst ist es wichtig, zurechnungsfähig zu sein.
(Foto: AP)
Ist der norwegische Attentäter Anders Behring Breivik zurechnungsfähig oder nicht? Diese Frage steht im Zentrum des Prozesses gegen den 33-jährigen Norweger, der im vergangenen Sommer in Oslo und auf der Insel Utöya 77 Menschen kaltblütig getötet hat. Möglicherweise ist sie nicht zu beantworten.
Die steht außer Frage - Breivik hat gestanden und versucht, seine Taten in kruden rechtsextremen Weltbildern als Selbstverteidigung zu rechtfertigen. In der Frage der Zurechnungsfähigkeit sind sich die Gutachter in Oslo aber uneins. Die Entscheidung darüber muss nun das Gericht fällen. Damit rücken grundsätzliche Rechtsgüter ins Blickfeld.
In hatten zwei vom Gericht beauftragte Gutachter Breivik für unzurechnungsfähig erklärt, da er an "paranoider Schizophrenie" leide. Synne Sørheim und Torgeir Husby werten in ihrem Bericht unter anderem Breiviks rechtsextreme Äußerungen als "bizarre Wahnvorstellungen" und begründen damit ihre Diagnose. Mit diesem Gutachten , weil sei Breiviks Vorgehen auf Utöya als sehr methodisch und rational wahrgenommen hatten.
Im April dieses Jahres widersprachen dann ausdrücklich der Einschätzung, dass Breivik während seiner Taten unter einer Psychose gelitten habe. Die beiden Psychiater Agnar Aspaas und Terje Törrissen halten Breivik deshalb für seine Taten für voll verantwortlich. Es bestehe zudem ein "hohes Rückfallrisiko" des Attentäters. Für ihr Gutachten werteten Aspaas und Törrissen elf Interviews mit dem Angeklagten, Einschätzungen einer dreiwöchigen ständigen Beobachtung sowie die Protokolle der Polizeiverhöre aus.
Breivik hat immer wieder deutlich gemacht, er wolle als zurechnungsfähig erklärt werden. Er sähe damit seinen ausländerfeindlichen Kurs quasi anerkannt. Der Schulabbrecher sagte, als krank und damit nicht zurechnungsfähig erklärt zu werden, wäre "ein schlimmeres Schicksal als der Tod".
Unrechtes Handeln erkennen
Psychiater nennen im Zusammenhang mit Breivik immer wieder den Namen Ernst August Wagner, der 1913 zunächst seine Frau und seine vier Kinder und anschließend neun weitere Menschen tötete. Während des Prozesses gegen ihn stellten Gutachter fest, dass Wagner an chronischem Verfolgungswahn litt und deshalb nicht für die Taten verantwortlich gemacht werden kann. Damit hielt diese Dimension überhaupt in die Rechtsgeschichte Einzug.
Inzwischen geht die Rechtsprechung davon aus, dass jeder Mensch zunächst für sein Tun verantwortlich ist und deshalb auch dafür zur Verantwortung gezogen werden kann. Lediglich vier Zustände können diese Schuldfähigkeit mindern: schwerer Schwachsinn, akute Geisteskrankheit, Vollrausch und Wahn.
Der Wahn ist dabei das am schwierigsten zu diagnostizierende Krankheitsbild. Gerichtspsychiater Reinhard Haller wies im ZDF darauf hin, dass die Grenze zwischen Fanatismus und Wahn nur schwer zu ziehen ist. Als Beispiel führte er Erfinderpersönlichkeiten an, bei denen man auch nicht immer sagen könne, ob sie noch genial oder schon verrückt sind.
Irrtum und Erkenntnis
Den entscheidenden Unterschied zwischen religiösem Fanatismus und krankhaftem Wahn beschrieb der Psychiater Norbert Leygraf in der "Zeit" damit, dass religiös motivierte Fundamentalisten eine sogenannte überweltliche Idee besitzen. "Zu solchen Ideen kann ein Mensch im Unterschied zum Wahn kritischen Abstand gewinnen."
Die zwei Berufs- und drei Laienrichter müssen also weniger über eine korrekte medizinische Diagnose entscheiden, als für sich die Frage beantworten, ob Breivik noch in der Lage war, von seiner ausländerfeindlichen Ideologie wieder Abstand zu nehmen.
Therapie wird nichts ändern
Einig sind sich die Psychiater in ihrer Einschätzung, dass Breivik in seinem offenbar über Jahre entwickelten Weltbild kaum zu erschüttern sein wird. Leygraf befürchtet, dass der Wahn "Breiviks weiteres Leben lang bestehen wird" und geht davon aus, dass Breivik mit Sicherheit in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden wird.
Und auch Haller hält den Versuch einer Unterscheidung zwischen Fanatismus und Wahn für eine "Frage um des Kaisers Bart". Denn wenn Breivik fanatisch sei, dann sei er von diesem Fanatismus so durchdrungen, dass er daran immer festhalten und damit auch immer gefährlich bleiben werde. Leide er aber an einem Wahn, "ist er genauso therapieresistent". In jedem Fall müsse die Gesellschaft bis zum Rest seiner Tage vor Breivik geschützt werden.
Mit seinen Taten und Aussagen wie "Terror ist Theater" hat Breivik den Rechtsstaat herausgefordert. Norwegen ist bei der juristischen Aufarbeitung der furchtbaren Verbrechen von Breivik bisher den Weg größtmöglicher Offenheit und Aufrichtigkeit gegangen. Auf der Basis von zwei unabhängig voneinander erstellten und entgegengesetzt lautenden Gutachten werden nun fünf Männer und Frauen entscheiden. Sie werden ihr Urteil mit gesundem Menschenverstand fällen. Es ist kaum zu erwarten, dass Breivik je wieder als freier Mann leben kann. Doch möglicherweise wird am Ende nicht jede Frage beantwortet sein.
Quelle: ntv.de