Politik

Berlusconi, der nackte Kaiser Italien ist in einer Traumwelt gefangen

Dieser Mann ist in kaum einem anderen Land Europas so denkbar: Silvio Berlusconi spricht in Brescia zu Anhängern.

Dieser Mann ist in kaum einem anderen Land Europas so denkbar: Silvio Berlusconi spricht in Brescia zu Anhängern.

(Foto: REUTERS)

Ganz Italien weiß, was bei Berlusconis "eleganten Abenden" in Mailand passiert ist: Seine Villa war "das Zentrum systematischer Prostitution", so die Anklage. Doch egal, wie bunt Berlusconi es treibt - niemand interessiert sich dafür. Italien steckt in einer Märchenwelt fest.

Das Problem Italiens ist nicht Silvio Berlusconi, das Problem sind die Italiener. Beziehungsweise der unbedingte Wunsch sehr vieler Einwohner dieses schönen Landes, sich eine ganz eigene Welt zu schaffen, die ganz aus Hoffnungen und Träumen besteht, in der es sich leicht lebt, in der die Könige gut sind und die Bösen rote Haare haben - eine Märchenwelt eben.

Der Prozess gegen den früheren Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi wegen Amtsmissbrauch und Anstiftung zur Prostitution ist das jüngste und auch erstaunlichste Beispiel für die Dimension, die die Verkennung der Wirklichkeit erreichen kann. Egal, wie bunt Berlusconi es treibt: Er kann sicher sein, dass man seiner Version der Ereignisse mehr Gewicht gibt als den 300 Seiten Untersuchungsbericht der Polizei.

Im Ruby-Prozess - das Urteil wird am 24. Juni in Mailand erwartet- geht es um Dutzende junge Mädchen, die laut Anklage Sex-Dienste in der Villa Berlusconis verrichteten, mit ihm als direktem Nutznießer. Es geht - wie es die Anklage aufgeführt hat - um Summen in der Größenordnung von über 20 Millionen Euro, und es geht auch darum, wie Berlusconi seine Macht als Regierungschef missbrauchte, um diese Sexorgien nicht ans Tageslicht kommen zu lassen.

Die Schecks fließen weiter

Nach Berlusconis Darstellung fanden in den Jahren 2008 bis 2010 nur "elegante Abendessen" in seiner Privatvilla in Arcore bei Mailand statt. Der Ermittlungsbericht spricht allerdings eine andere Sprache. Darin stehen Dutzende Zeugenaussagen, Abschriften hunderter abgehörter Telefongespräche, Konto-Auszüge, die nur eine Interpretation zulassen. Diese hat die (rothaarige) Staatsanwältin Ilda Boccassini am letzten Gerichtstag in Rom in einem zehnstündigen Strafantrag in einer solchen Detailtreue ausgebreitet, dass die Journalisten vor lauter Zahlen, Daten und Fakten kaum noch mitkamen beim Aufschreiben.

"Hände weg von Berlusconi" fordern diese Anhänger des Ex-Premiers.

"Hände weg von Berlusconi" fordern diese Anhänger des Ex-Premiers.

(Foto: AP)

In Arcore, so die Anklage, wurden regelmäßig Sex-Orgien nach dem Bunga-Bunga-a-tergo-Ritus veranstaltet, mit dem damaligen Ministerpräsidenten Italiens im Mittelpunkt. Sex gegen Bezahlung, zuerst nach Tages-Leistung ausgezahlt, später als monatlicher Scheck, auch das Appartement wurde bezahlt. Den Scheck bekommen die Damen bis heute, monatlich fließen dafür, so erzählen es die Chronisten im Gerichtssaal, immer noch 120.000 Euro von den Konten Berlusconis ab. Die Anklage nennt das "Schweigegeld", die Lebensversicherung Berlusconi: Die Damen haben "Bingo" gemacht, sagt man dazu in Italien.

Seine Version der Fakten lässt Berlusconi über den eigenen Fernsehsender Canale 5 erzählen. Schön, wenn man am Abend vor dem Prozesstag so etwas kann, das würden sich viele Angeklagte wünschen.

"Berlusconi ist unsterblich geworden für die Italiener"

Das Lustige am Berlusconi-Film im eigenen Sender über die "eleganten Abende" bei sich zu Hause ist, dass außer Ruby keine Protagonistin zu Wort kommt. Klugerweise, möchte man sagen. Schon deren alleiniges "bewegtes" Auftreten, vielleicht noch garniert mit kurzen O-Tönen, hätte selbst vollkommen naive Zuschauer, davon überzeugt, dass die Annahme der Staatsanwaltschaft richtig ist: "Berlusconis Villa in Arcore war das Zentrum systematischer Prostitution."

Die Berlusconi-Regisseure hatten gar keine andere Wahl: Sie mussten den Zuschauern die Damen vorenthalten, die normale Menschenkenntnis hätte bei der Betrachtung der konkreten Fälle genügt, um zu begreifen, dass diese Damen üblicherweise nicht an "eleganten Abenden" teilnehmen, bei denen Konversation gepflegt und englischer Tee getrunken wird.

Wie sollte man auch die mitgehörten Streitereien der Lebedamen ums Geld, um die Begünstigungen, um Rollen in Berlusconi-Sendungen sonst erklären? Oder den mittlerweile berühmten Mitschnitt Rubys, die zu einer Freundin nur lapidar meinte: "Wenn die Noemi der Augenstern Berlusconi ist, dann bin ich der Arsch." Zur Erläuterung: Noemi ist eine andere Minderjährige, die Berlusconi vor Ruby frequentiert hatte; sie war der Auslöser des Scheidungsantrags seiner Ehefrau Veronica Lario.

Trotz alledem würden heute wieder 35 Prozent der Italiener dem Ritter der Arbeit, dem "Cavaliere", bei Neuwahlen die Stimme geben. Wie ist das zu erklären? "Berlusconi ist unsterblich geworden für die Italiener", meint der Gerichtsreporter der Berlusconi-kritischen Tageszeitung "Il Fatto Quotidiano", Gianni Barbacetto: "Er ist Teil der imaginären Märchenwelt des Fernsehens, so unsterblich wie die Schlümpfe oder die Serienstars, er gehört auf immer zur italienischen Familie."

Polizeipräsidium unter Feuer

Staatsanwältin Ilda Boccassini fordert sechs Jahre Haft für Berlusconi.

Staatsanwältin Ilda Boccassini fordert sechs Jahre Haft für Berlusconi.

(Foto: AP)

Für ein Land, in dem an vielen Orten noch immer der katholische Pfarrer die Moral diktiert, ist das schon eine erstaunliche Metamorphose. Die "rote Hilde", die stellvertretende Generalstaatsanwältin von Mailand, also ein echtes Schwergewicht der italienischen Justiz, wollte Berlusconi Gerechtigkeit antun bei der Formulierung der Anklagepunkte. Nicht mehr Anstiftung zur Prostitution warf sie ihm vor, weil Ruby schon vor den sieben Begegnungen mit Silvio als Prostituierte gearbeitet habe, sondern nur noch Sex mit einer Minderjährigen. Eine Straftat, die mit einem Jahr Gefängnis geahndet wird, und extra von Berlusconi ins Strafgesetzbuch aufgenommen worden war. Das hat Staatsanwältin Ilda Boccassini ein paar Mal betont, ihre Art von Humor.

Brutal normal aber ging es stundenlang weiter beim viel schwerwiegenderen Anklagepunkt. Das ist der Verlauf der Nacht vom 27. Mai 2010, als Ruby aufs Polizeipräsidium von Mailand gebracht wird. Eine Bekannte hatte sie des Diebstahls angezeigt. Schnell kommt heraus dass Ruby a) erst 17 Jahre und damit minderjährig ist, b) marokkanischer Abstammung mit Namen Karima el-Marough, c) dass sie aus einer Einrichtung des betreuten Wohnens in Sizilien geflohen ist und d) dass sie kein reguläres Einkommen hat, sondern im Verdacht der Prostitution steht.

Eine Jugendrichterin beschließt, wie in solchen Fällen üblich, sie erneut in eine betreute Wohnung einzuweisen, in Mailand. Noch in dieser Nacht fängt Silvio Berlusconi an, die höchsten Polizeioffiziere Mailands mit Telefonaten aus dem fernen Paris zu bombardieren. Berlusconis Machtapparat nimmt mit "geradezu militärischer Präzision", wie die Staatsanwältin es beschreibt, das Polizeipräsidium von Mailand unter Beschuss, um die Minderjährige freizubekommen.

Der Grund liegt auf der Hand: Sie darf auf keinem Falle von ihren Abenden bei Berlusconi berichten, sich der Bekanntschaft rühmen, den Zirkus der "eleganten Abende" auffliegen lassen.

Am Ende erreicht Berlusconi sein Ziel, unter dem Druck einer offenkundigen Lüge - er behauptet, Ruby sei die Nichte des ägyptischen Staatschefs Mubarak, und wenn man sie nicht freilasse, käme es zu diplomatischen Zwischenfällen mit Ägypten.

Einem Schlumpf ist ja auch alles erlaubt

Zu diesem Zeitpunkt weiß man im Polizeipräsidium aber bereits mit absoluter Gewissheit, dass Ruby eine gesuchte Minderjährige marokkanischer Herkunft ist, die in ein Heim eingewiesen werden muss - dennoch gibt die Polizeiführung Mailands dem Druck nach und die "Zahnhygiene-Spezialistin" Nicole Minetti, laut Anklage die Organisatorin der Bunga-Bunga-Feste in Arcore, bekommt Ruby als "erwachsene Betreuerin und für ihr Wohl verantwortlich" anvertraut. Doch Minette nimmt die Minderjährige nicht mit nach Hause zu sich, wie es zu erwarten gewesen wäre, um ihrer Fürsorgepflicht nachzukommen, sondern bringt Ruby noch in der Nacht zu einer Freundin, einer Prostituierten.

Die Italiener kennen nun zweifellos viele Details dieser traurigen Geschichte, in der ein Regierungschef seine Amtsposition missbraucht, um eine Gespielin am Auspacken zu hindern - so stellt sich der Abend jedenfalls in den Augen der meisten Beobachter dar. Die Italiener wissen, dass Berlusconi die Justiz und sie alle auf den Arm nimmt mit der Geschichte der Nichte Mubaraks. Dennoch lässt er einmal sogar allen Ernstes das Parlament darüber abstimmen, dass seine Behauptung in dieser Nacht wahrhaftig von ihm selbst geglaubt wurde. Berlusconis Macht ist so groß, dass er seine eigenen Abgeordneten zwingen kann, zu bescheinigen, dass der Kaiser Kleider trägt.

Wenn Berlusconi heute wieder der politisch mächtigste Mann Italien ist, der die vermeintlichen Wahlsieger der Demokratischen Partei vor sich her treibt wie Wildschweine beim Kesseltreiben, dann, weil er der Protagonist der italienischen Märchenwelt geworden ist. Er ist unsterblich: Einem Schlumpf ist ja auch alles erlaubt. In einer Folge mag er dummes Zeug gemacht haben, in der nächsten Folge wird er es schon wieder richten. Wir schalten nicht ab.

Solange das Land den Ausschalter für diese Art von Geschichten nicht findet, beginnt das bunte Treiben jeden Tag aufs Neue, ohne jede Erinnerung an das, was gestern passiert ist. Italien ist gefangen in seiner eigenen Traumwelt.

Quelle: ntv.de

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