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Katja Kipping im Interview "Nach der SPD-Entscheidung wurde es kühler"

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Katja Kipping ist seit dem 21. Dezember 2021 Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales in Berlin. Davor war die Linken-Politikerin Bundestagsabgeordnete.

Katja Kipping ist seit dem 21. Dezember 2021 Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales in Berlin. Davor war die Linken-Politikerin Bundestagsabgeordnete.

(Foto: IMAGO/Emmanuele Contini)

Katja Kipping war für fünf Jahre als Sozialsenatorin in Berlin angetreten. Nach der Wiederholungswahl entschied sich die SPD für eine neue Koalition. Noch hat Kipping die Hoffnung nicht ganz aufgegeben, dass Rot-Grün-Rot doch weitermachen kann - also auch sie selbst. "Ich bin Realistin und bereite alles für eine ordentliche Amtsübergabe vor", sagt die Linken-Politikerin. "Aber noch ist das nicht entschieden." Wenn die SPD-Basis Schwarz-Rot einen Korb gebe, "dann könnte bis Pfingsten eine fortschrittliche Regierung stehen". Auch über Sahra Wagenknecht sagt sie etwas im Interview mit ntv.de. Einen Satz: "Ich will nicht mit weiteren Zitaten auf dieses Geschäftsmodell einzahlen."

ntv.de: Sie müssen Ihr Amt wahrscheinlich in wenigen Wochen einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin übergeben. Wie fühlen Sie sich?

Katja Kipping: Es ist ein Cocktail von verschiedenen Gefühlen. Zum einen Dankbarkeit, dass ich diese Erfahrung machen konnte. Ein bisschen bin ich auch gerührt, weil es sehr wertschätzende Rückmeldungen gibt zu dem, was wir in den anderthalb Jahren geschafft haben. Dann bin ich traurig, weil wir hier als Team eine tolle Zusammenarbeit hatten. Und ich bedaure, dass wir ein paar Dinge nicht zu Ende bringen können. Zugleich bin ich neugierig darauf, was kommt.

Am 30. März besuchte König Charles III. das Ankunftszentrum für Flüchtlinge aus der Ukraine im ehemaligen Flughafen Tegel. Als zuständige Senatorin war Katja Kipping auch dabei.

Am 30. März besuchte König Charles III. das Ankunftszentrum für Flüchtlinge aus der Ukraine im ehemaligen Flughafen Tegel. Als zuständige Senatorin war Katja Kipping auch dabei.

(Foto: picture alliance/dpa/dpa-POOL)

Was hätten Sie noch zu Ende bringen wollen?

Vieles, zum Beispiel die Entbürokratisierung des Zuwendungsrechtes und die Einführung der Ausbildungsplatzumlage. Wir haben Ende 2022 die Eckpunkte für dieses Vorhaben vorgestellt und wollten nun in einem partizipativen Prozess den Gesetzentwurf erarbeiten, um ihn dann ins Abgeordnetenhaus einzubringen. Das Thema lag mir sehr am Herzen. Dafür reicht nun leider die Zeit nicht mehr.

Ein Berliner Sozialdemokrat, Andreas Köhler, hat nach der Wahl eine Art Generalabrechnung mit seiner Partei und dem rot-grün-roten Senat geschrieben, aber Sie für Ihre Arbeit gelobt: "Wie unaufgeregt, professionell und fachkundig sie die Geflüchteten aus der Ukraine integrierte, Kältehilfen usw. organisierte, ist wirklich bewundernswert." Haben Sie da gedacht, endlich merkt es mal jemand?

Nein. Ich habe mich eher gewundert, dass ein Anwalt so kritische Töne über die eigene Partei äußert. Ansonsten hatte ich, wie gesagt, ohnehin den Eindruck, dass es viel Wertschätzung für unsere Arbeit gibt.

Sie sagen "unsere" Arbeit?

In der Politik werden Erfolge und Misserfolge meist einer Person zugeschrieben, aber tatsächlich ist es das Ergebnis von Teamarbeit. Das gilt auf jeden Fall für das Zusammenspiel der tollen Leute hier in der Sozialverwaltung, gerade bei der Unterbringung von Geflüchteten.

Haben Sie eine Lieblingsnachfolgerin oder einen Lieblingsnachfolger im Kopf?

Ich kann nur sagen: Wer immer das Amt übernimmt, hat eine Mammutaufgabe vor sich. Wir haben viel geschafft, aber die Herausforderungen sind nach wie vor enorm, etwa bei der Unterbringung von Geflüchteten. Da hat der Wahlkampf nicht gerade geholfen. Eine Verständigung über Standorte für neue Unterkünfte muss bald, mit der Autorität des neuen Regierenden Bürgermeisters, gefunden werden. Der Senat steht in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Unterkünfte gleichmäßig über die Bezirke verteilt werden, nicht nur auf die Außenbezirke im Osten der Stadt.

Städtetagspräsident Markus Lewe sagt, viele Städte seien bei der Unterbringung von Geflüchteten am Limit. Wie ist es mit Berlin?

Ich finde, das Sprechen über Limits ist Ausdruck eines statischen Denkens. In dynamischen Zeiten muss man dynamisch denken. Für mich war nie die Frage: Wann ist unser Limit erreicht? Sondern: Was müssen wir tun, um die Geflüchteten gut unterzubringen? Auch wenn ich weiß, dass das angesichts der hohen Ankunftszahlen ein Knochenjob ist.

Gibt es keinen Punkt, bei dem die Akzeptanz in der Bevölkerung überstrapaziert wäre?

Die Akzeptanz hängt davon ab, wie ein gutes Ankommen organisiert wird und was von Meinungsmachern in den Vordergrund gestellt wird. Wenn an der Spitze einer Regierung und an der Spitze von Redaktionen Leute sitzen, die Ressentiments schüren, dann nimmt die Akzeptanz ab.

Was kann die Politik tun?

Schnellstmöglich Begegnung zu ermöglichen. Der rasche Zugang zum Arbeitsmarkt ist ein wichtiges Mittel, um ein Ankommen, aber auch um einen Austausch zu ermöglichen. Das sollte nicht nur für Ukrainerinnen und Ukrainer gelten, sondern auch für Asylsuchende.

Wie haben Sie die Atmosphäre im Senat während des Wahlkampfs empfunden? War es ein permanenter Machtkampf zwischen der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey und der Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch, den die Linken von der Seitenlinie verfolgt haben?

Nein, ein Machtkampf war es nicht. Es gab inhaltliche Konflikte, hinter denen ein strategisches Dilemma steckt: Die SPD nimmt stärker die Interessen der Außenbezirke in den Blick, während die Grünen eher auf die Innenstadtbezirke und auf ökologische Fragen schauen. Nötig wäre aber, diese Perspektiven zusammenzubringen, nur dann sind sie vollständig. Naja, und nach der Entscheidung der SPD, Koalitionsverhandlungen mit der CDU aufzunehmen, wurde es im Senat etwas kühler.

Franziska Giffey hat es so dargestellt, als habe es an den Grünen gelegen, dass eine Fortsetzung der Koalition nicht möglich war, nicht an den Linken. War das aus Ihrer Sicht so?

Ich habe da eine andere Deutung. Es gab Kontroversen in Einzelfragen, aber das Dominante war die Angst von Frau Giffey vor dem Spin, eine Weiterführung der Koalition wäre ein "Wahl-Klau". Dabei gilt in Deutschland noch immer, dass Wahlsieger ist, wer eine Mehrheit für sich im Parlament gewinnt. Und nicht, wer von der Presse zum Wahlsieger erkoren wurde.

Sie hoffen aber nicht mehr, dass Rot-Grün-Rot doch noch weitermachen kann?

Ich bin Realistin und bereite alles für eine ordentliche Amtsübergabe vor. Aber noch ist das nicht entschieden. Wenn die SPD-Basis Schwarz-Rot einen Korb gibt, stehen die Türen für sozial-ökologische Mehrheiten offen, dann könnte bis Pfingsten eine fortschrittliche Regierung stehen. Alle fröhlichen Bilder können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es für die SPD schwierig werden dürfte, große Aufgaben mit der CDU zu bewältigen.

Auf einen Koalitionsvertrag haben sich beide Parteien schon mal geeinigt.

Nur die Spitzen der Parteien, noch nicht deren Basis. Ich habe die 135 Seiten des Koalitionsvertrages durchgearbeitet: Vieles ist sehr unverbindlich gehalten. Natürlich sind mit Blick auf die SPD-Basis schöne Signalworte drin, aber es dominiert die Unverbindlichkeit. Und was man wissen muss: Finanzsenator, Justizsenator und Regierender Bürgermeister können faktisch immer alles verhindern, denn von denen braucht fast jede Vorlage beziehungsweise jedes Gesetz in der Regel eine Mitzeichnung oder zumindest kein Veto, und diese drei Posten sind in Hand der CDU. Dabei bräuchte diese Stadt einen Senat, der vollen Einsatz für Soziales zeigt und den Herausforderungen der Klimawende gerecht wird.

Zeigt der Ausgang des Volksentscheids nicht, dass die Berlinerinnen und Berliner gar nicht einen so starken Schwerpunkt auf Klimapolitik legen wollen?

Der Ausgang zeigt, dass es eine gewisse Ermüdung bei Abstimmungen gab. Klimaschutz ist eine Frage von Zukunftssicherheit. Wir haben erlebt, wie Krisen in Zumutungen umschlagen können. Wenn der Klimawandel in voller Härte durchschlägt, wird das eine Zumutung sein, die wir uns noch gar nicht vorstellen können. In der Obdachlosenhilfe etwa reden wir nicht mehr nur über Kältehilfe, sondern auch über Hitzehilfe und erleben, wie die Extremwetter die sozial besonders Verletzbaren besonders hart treffen. Klimaschutz ist also eine zutiefst soziale Frage.

Es wird, wieder einmal, darüber spekuliert, dass Sahra Wagenknecht eine eigene Partei gründet. Hätte eine Linke, die in Konkurrenz zu einer Wagenknecht-Partei steht, eine Chance, die Fünfprozenthürde zu schaffen?

Ich will nicht mit weiteren Zitaten auf dieses Geschäftsmodell einzahlen.

2012 hat Gregor Gysi auf einem Linken-Parteitag gesagt, in der Linksfraktion herrsche "Hass", und wenn sich das nicht ändere, wäre es besser, sich zu trennen. Ist es jetzt so weit?

Als Gregor Gysi diese Rede gehalten hat, lagen wir in den Umfragen unter vier Prozent. Danach sind Bernd Riexinger und ich Parteivorsitzende geworden. Wir haben es geschafft, dass die Partei bei den nächsten Bundestagswahlen deutlich besser abgeschnitten hat und die Partei modernisiert wurde, sie sich Zukunftsthemen wie Digitalisierung zugewandt hat und das SED-Image losgeworden ist. Leider ist danach vieles eingerissen worden. Aber heute ist für mich nicht der Zeitpunkt, um darüber zu sprechen, wie es für die Linke weitergeht. Diese Entscheidung liegt in der Bundestagsfraktion.

Sie meinen die beiden Fraktionsvorsitzenden.

Die stehen qua Funktion in der Verantwortung, das Dilemma zu lösen.

Kürzlich haben Sie gefordert, dass die Linkspartei ihre Position zur NATO überdenkt. Wie viel Ärger haben Sie dafür bekommen?

Aktuell steht in unserem Parteiprogramm, dass wir die Ersetzung der NATO durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands anstreben. Auch wenn es nicht so gemeint ist, lesen viele das so, als ob wir eine privilegierte Partnerschaft mit Russland anstreben, und wenden sich deshalb ab. Spätestens nach dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine mit all den Grausamkeiten, die damit verbunden sind, unter anderem der Verschleppung von Tausenden von Kindern, kann man nicht so tun, als habe es diese Entwicklung nicht gegeben.

Sie haben ein freiwilliges soziales Jahr in Russland gemacht, in Gattschina in der Nähe von Sankt Petersburg, Sie haben Slawistik studiert. Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zu Russland?

Ich war immer begeistert von russischer Literatur und Kultur - meine Abschlussarbeit habe ich unter anderem über Anton Tschechow geschrieben. In meinem Jahr in Gatschina habe ich den faszinierenden zivilgesellschaftlichen Aufbruch erlebt, den es in den 1990er Jahren in Russland gab. Zumindest in Sankt Petersburg gab es eine ökologische Bewegung, eine queere Bewegung und vieles mehr. Unter Putin ist das erstickt worden. Russland ist heute ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass die tollen Menschen, die es dort gibt, Repressionen ausgesetzt sind und viele das Land verlassen haben. Das stimmt mich nicht gerade optimistisch, wenn es um die Zukunft Russlands geht.

Die Linke sagt, die Ukraine habe das Recht auf Selbstverteidigung gegen den Angriff Russlands, aber Waffenlieferungen lehnt sie ab. Wie soll die Ukraine sich ohne Waffen verteidigen?

Ich bin keine Militärexpertin. Und man kann das Thema kontrovers diskutieren. Aber Tatsache ist auch, dass es in unserer Gesellschaft wenigstens eine politische Kraft geben muss, die den rhetorischen Wettlauf, wer am meisten Aufrüstung fordert, nicht mitmacht, sondern kritisch hinterfragt. Und für diese Aufgabe kommt aktuell nur die Linke als Oppositionspartei im Bund in Frage.

Es ist doch nicht Aufrüstung, wenn Deutschland der Ukraine Waffen zur Verfügung stellt.

Ich gebe zu, dass ich hier eine innere Zerrissenheit habe. Einerseits frage ich mich natürlich auch, wie die Ukraine das schaffen soll. Und zugleich habe ich die Sorge, wohin uns die Zeitenwende bringt. Ich bin in manchen Punkten bei Jürgen Habermas, auch wenn er die osteuropäischen Staaten zu wenig als souveräne Akteure wahrnimmt. Aber da es nicht von meiner Stimme abhängt, weil ich nicht Mitglied der Bundesregierung bin, kann ich ganz offen über meine Zerrissenheit reden.

Um Senatorin werden zu können, haben Sie Ihr Bundestagsmandat aufgegeben, für einen Sitz im neuen Abgeordnetenhaus konnten Sie nicht kandidieren, weil die Wahl am 12. Februar eine Wiederholungswahl war. Parteiämter haben Sie auch keine mehr. Was machen Sie, wenn die Zeit hier in der Senatsverwaltung für Soziales endgültig vorbei ist?

Die Zeit im Berliner Senat war so eine tolle Erfahrung - selbst wenn ich gewusst hätte, dass es nur für anderthalb Jahre ist, würde ich mich aus heutiger Sicht wieder dafür entscheiden. Und wie es jetzt weitergeht? Schauen wir mal. Auch wenn ich diese Situation nicht selbst gewählt habe, empfinde ich es als Freiheit, mich mit Mitte 40 womöglich neu zu orientieren und ein neues Kapitel aufzuschlagen. Das ist schon auch was Spannendes.

Können Sie sich vorstellen, gar nichts mehr mit Politik zu machen?

Politik im Sinne von mich sinnstiftend einbringen in die Gesellschaft wird immer ein Teil meines Lebens sein. Aber das muss nicht ein Job in der Parteipolitik sein.

Mit Katja Kipping sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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