Erfurt und die Parallelen Kinder als Fackeln
30.04.2002, 10:41 UhrVon Axel F. Busse
Die Bluttat von Erfurt ist beispiellos. Dennoch weckt sie Erinnerungen an einen Vorfall, der fast 38 Jahre zurückliegt. Damals überfiel ein geistesgestörter Mann mit einem selbstgebastelten Flammenwerfer eine Volksschule im Kölner Stadtteil Volkhoven. Acht Kinder und zwei Lehrerinnen starben, der Attentäter schluckte eine Kapsel Pflanzengift, bevor die Polizei ihn in Gewahrsam nehmen konnte.
Entsetzen und Trauer bestimmten auch damals die Reaktion der Öffentlichkeit. Bis ins Ausland reichte der Widerhall des schrecklichen Geschehens - ebenso wie heute. Gerade hat eine Zeitung in der israelischen Hafenstadt Haifa in ihrer Berichterstattung über Erfurt Bezüge zum Attentat von Volkhoven hergestellt. n-tv.de blickt zurück auf die Ereignisse und sprach mit einem Opfer von damals.
Klassen in Holzpavillons
Walter Seifert, der psychisch kranke Täter von Volkhoven, drang am 11. Juni 1964 in das Gelände der katholischen Volksschule ein. Acht Lehrkräfte sowie etwa 380 Schülerinnen und Schüler befanden sich dort, es war kurz vor der großen Pause. Zu den Unterrichtsgebäuden gehörten auch drei Holzpavillons. Seifert zerstörte eines der Fenster und hielt sein selbstgebautes Mordinstrument, mit dem er eine bis zu sechs Meter lange Flamme erzeugen konnte, in den Innenraum.
Außerdem hatte er eine Lanze dabei, mit der er zwei Lehrerinnen niederstach, die sich ihm in den Weg stellten. Heute trägt die Schule den Namen einer dieser Lehrerinnen. Seifert hatte nach dem Betreten des Geländes das Schultor mit einem Holzkeil blockiert, so dass Helfer von außen zunächst nicht eingreifen konnten. Eine Gruppe von Kindern, die im Freien ihrem Sportunterricht nachgingen, griff er ebenfalls an. Kurze Zeit später floh Seifert auf ein angrenzendes Feld, wo er von der Polizei gestellt wurde.
Ein Jahr im Krankenhaus
Die Panik auf dem Schulhof war unvorstellbar. Teilweise rannten die Kinder wie lebende Fackeln mit brennenden Kleidern durcheinander. Einige von ihnen wurden mit bis zu 90 Prozent verbrannter Körperoberfläche in die umliegenden Kliniken eingeliefert. Zu den lebensgefährlich Verletzten gehörte auch Bruno Kassel. Der damals Neunjährige verbrachte rund ein Jahr im Krankenhaus, bis seine Verletzungen wieder einigermaßen ausgeheilt waren.
Wenn auch Abscheu und Entsetzen über die Tat und deren Folgen sich gleichen, so sieht Kassel doch wesentliche Unterschiede zwischen Volkhoven und Erfurt. "Damals ist es eine externe Person gewesen, jemand, der sich für seinen Anschlag dieses oder jenes Ziel zufällig hätte aussuchen können", beschreibt der heutige Musikjournalist Tatmerkmale, wo jedoch wie am Gutenberg-Gymnasium "mein Banknachbar, mein Mitschüler oder mein Sportkamerad" zum Mörder wird, hätten sich "die Dimensionen verschoben". Ebenso wie heute habe der Vorfall damals "die Nation erschüttert".
Leiden an Spätfolgen
Damals wurden weder Opfer noch Angehörige psychologisch begleitet. "Daran hat man nicht gedacht oder es nicht für wichtig erachtet", vermutet Kassel, der noch immer unter den Folgen des Attentats leidet. "Drei Monate lang wussten meine Eltern nicht, ob ich lebendig oder tot nach Hause komme", berichtet er von den dramatischsten Ereignissen seines Lebens. Kassel gehörte zu den Kindern, deren Haut zum größten Teil verbrannt war, dessen Leber und andere Organe darüber hinaus von den andauernden Medikamenten-Verabreichungen schwer geschädigt waren.
Auch fast 38 Jahre nach den schrecklichen Erlebnissen haben einige ehemalige Schüler noch Kontakt zueinander: "Sowas schweißt zusammen", weiß Kassel. "Mit einigen habe ich in den letzten Tagen telefoniert. Man wird aus der gewohnten Spur herausgeschleudert und das ganze Leben verändert sich mit einem Schlag".
Quelle: ntv.de