No Future Kinder wissen Bescheid
24.10.2007, 10:40 UhrDass die Chancen von Kindern in Deutschland stark vom sozialen Status ihrer Eltern abhängen, ist spätestens seit den PISA-Studien bekannt. Neu ist, dass dies auch den Kindern klar ist. "Die Kinder haben noch kein Bewusstsein für oben oder unten, aber sie merken, dass sie nichts weiter bringt", erläuterte sagte der Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann bei der Vorstellung einer Kinderstudie des Kinderhilfswerks WorldVision in Berlin.
"Ich wäre gern schlauer", sagt etwa der zehn Jahre alte Dennis in einem Interview. Für die repräsentative Untersuchung nach dem Vorbild der Shell-Studie befragten Hurrelmann und seine Mitarbeiter 1.600 Kinder zwischen acht und elf Jahren. Das Ergebnis: Es gibt mehr als zwei Drittel Gewinner, die sich in Sportvereinen tummeln, Freunde treffen, lesen, musizieren, malen, tanzen und nur ab und zu fernsehen. Und es gibt Verlierer, laut Studie immerhin ein Viertel aller Kinder, die vor allem vor der Glotze oder dem Computer sitzen. Häufig sind es Jungen.
Ein weiteres Ergebnis: Die Kinder berufstätiger Eltern leiden nicht unter mangelnder Zuwendung. Ganz im Gegensatz zu den Kindern von Arbeitslosen: 28 Prozent der Kinder von Arbeitslosen und 35 Prozent der Kinder berufstätiger Alleinerziehender beklagen Zuwendungsdefizite. In Familien mit zwei Vollzeit arbeitenden Partnern sind es laut Studie nur 17 Prozent, in Familien mit einem Vollzeit und einem Teilzeit arbeitenden Partner nur acht Prozent der befragten Kinder. Auf sechs Prozent sinkt der Anteil bei einem nicht berufstätigen Partner.
Kinder brauchen eine feste Tagesstruktur
Für Hurrelmann ist dies das "Schlüsselergebnis" der Befragung: Kinder brauchen eine feste Tagesstruktur. Eine geregelte Erwerbstätigkeit der Eltern stabilisiere die häuslichen Verhältnisse und helfe, die gemeinsam verbrachte Zeit intensiver zu nutzen. "In Familien mit arbeitslosen Eltern gibt es keine feste Alltagsstruktur", so Hurrelmann. Für Kinder sei aber genau das wichtig. "Sie wünschen sich eine sichere Zeit mit ihren Eltern." Daher hätten auch besonders viele Mädchen und Jungen der Unterschicht Angst davor, dass ihre Eltern arbeitslos werden. Immerhin 13 Prozent aller Kinder hätten das bereits erlebt.
Die große Mehrheit der Kinder stellt vor allem ihren Müttern ein gutes Zeugnis aus. Ihre Väter sehen sie kritischer, wünschen sich aber dennoch mehr Zeit mit ihnen. Nur sechs Prozent der Kinder berichten über Dauerstreit in der Familie, 14 Prozent erzählen von Schlägen - weit weniger als in früheren Einzeluntersuchungen.
Es braucht ein ganzes Dorf
Der Studie zufolge haben die Kinder von heute ein besonders inniges Verhältnis zu ihren Eltern. Zu Hause fühlen sie sich sicher und geborgen. Genau hier liegt das Problem: Während Kinder aus gebildeten Familien zuhause angeregt und gefördert werden, kommen Kinder in benachteiligten Familien häufig zu kurz. Die Wissenschaftler meinen daher, dass diese "Familienzentriertheit" aufgebrochen werden müsse: Nur zusätzliche Anregungen von außen könnten verhindern, dass Kinder durch exzessiven Konsum von TV und Computerspielen ihrer Entwicklung behindert würden. Eltern müssten von Politik und Gesellschaft unterstützt werden. WorldVision zitierte zur Illustration der Lage ein afrikanisches Sprichwort: "Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind stark zu machen."
Wenn Eltern Aktivitäten nicht förderten, lähmten sie den Bildungseifer und die ganze Leistungsfähigkeit ihrer Kinder, erklärte Hurrelmann. In dieser Hinsicht gebe es zwischen den sozialen Schichten "große Klüfte". So berichteten 41 Prozent der Kinder aus den untersten Schichten, täglich mehr als zwei Stunden vor dem Fernseher zu sitzen. Für Kinder aus gehobenen Schichten treffe dies auf etwa zehn Prozent zu.
Ganztagsschule als mögliche Lösung
Die Debatte über die Ganztagsschule sollte nach Meinung der Autoren die Sichtweisen der Kinder stärker einbeziehen. Zwar hänge die Akzeptanz von Ganztagsschulen von Ausgestaltung und Konzept des Unterrichts ab. Eine Mehrheit wünsche sich Sport oder kreative Aktivitäten für den Nachmittag, keinesfalls mehr Unterricht. Auffallend sei, das Mädchen mit Ganztagsschulen besser zurechtkämen als Jungen.
Die Vorsitzende der Kinderkommission des Bundestages, Miriam Gruß (FDP), und die ehemalige Bundesfamilienministerin Renate Schmidt (SPD), begrüßten die Studie als bahnbrechend. Gruß sprach von einem "Duden" für alle Kinderforscher und -politiker. Wie Schmidt zeigte sie sich zuversichtlich, dass dank der Studie der seit Jahren verfolgte Plan, Kinderrechte als Grundrecht im Grundgesetz zu verankern, noch vor der nächsten Bundestagswahl 2009 verwirklicht werden könne.
Jugendliche werden schon seit Jahren im Rahmen der Shell-Studie zu ihren Einstellungen, Wünschen und Bedürfnissen befragt. Die WorldVision-Untersuchung will nun eine Lücke schließen. Die rund 1.600 Kinder wurden in Ruhe zu Hause interviewt, die Forscher befragten die Eltern zusätzlich zur Lage der Familie. In der 440 Seiten starken Studie gibt es auch zwölf große Kinder-Porträts.
Quelle: ntv.de