Politik

"Sie töten uns wie die Tiere" Kirgisistan kommt nicht zur Ruhe

Usbeken warten an der Grenze von Kirgisistan nach Usbekistan.

Usbeken warten an der Grenze von Kirgisistan nach Usbekistan.

(Foto: AP)

In Kirgisistan kommen bei den ethnischen Unruhen bisher mehr als 80 Menschen ums Leben. Die Regierung entsendet Truppen und mobilisiert die Reserve. Tausende Menschen fliehen vor der Gewalt. Beobachter sprechen von Zuständen wie im Krieg, sie befürchten eine Hungerkatastrophe.

In Kirgisistan sind bei den schwersten Ausschreitungen zwischen rivalisierenden Volksgruppen seit zwei Jahrzehnten mindestens 83 Menschen getötet worden. Mehr als 1100 weitere wurden im Süden des Landes verletzt, wo die Unruhen den dritten Tag in Folge andauerten. Tausende Usbeken flohen aus der zweitgrößten Stadt Osch, nachdem bewaffnete Banden sie angegriffen hatten. Bei den Kämpfen zwischen Kirgisen und Usbeken waren ganze Wohnviertel zerstört und geplündert worden.

In Ortschaften um Osch brennen Häuser.

In Ortschaften um Osch brennen Häuser.

(Foto: AP)

Das kirgisische Innenministerium teilte mit, die Lage im Süden bleibe angespannt. Die Übergangsregierung verhängte eine 24-stündige Ausgangssperre in den betroffenen Regionen. In Osch und den benachbarten Distrikten Karasu und Arawan gelte rund um die Uhr ein Ausgangsverbot, erklärte das Innenministerium in der Hauptstadt Bischkek. Das Militär errichtete zahlreiche Posten mit Soldaten.

Um der Lage Herr zu werden, entsandte die Regierung Einheiten in das Gebiet und mobilisierte zudem alle Reservisten der Armee. Zuvor hatte die ehemalige Sowjetrepublik Russland vergeblich um Militärhilfe gebeten. Kurz nach Russlands Absage erlaubte die kirgisische Regierung den Soldaten, in den Regionen unter Ausnahmezustand scharf zu schießen.

Reisewarnung der Bundesregierung

Die deutsche Bundesregierung appellierte an beide Seiten, die Gewalt einzustellen. Bundesaußenminister Guido Westerwelle äußerte sich "sehr besorgt". Deutschland, das als einziges EU-Land in dem Nachbarland zu China eine Botschaft unterhält, werde sich für die Ausreise der deutschen und EU-Bürger aus der Konfliktregion einsetzen, so Westerwelle. Mindestens zwei Deutsche hielten sich demnach in Osch auf. Die Bundesregierung riet von nicht unbedingt erforderlichen Reisen in das Land ab. Westerwelle sagte mit Blick auf die Versorgung der Bevölkerung, Deutschland werde sich bei einer möglichen Hilfe mit der EU und den Vereinten Nationen abstimmen.

Der Süden Kirgisistans gilt als Hochburg des im April entmachteten und im weißrussischen Exil lebenden Präsidenten Kurmanbek Bakijew. Die Übergangsregierung hat hier nur begrenzte Macht, da das Gebiet von der Hauptstadt Bischkek durch ein Gebirge getrennt ist. Regierungschefin Rosa Otunbajewa beschuldigte Anhänger des Ex-Präsidenten, die Unruhen angefacht zu haben. Sie wollten so ein Verfassungsreferendum sabotieren.

Bakijew wies die Vorwürfe laut der russischen Nachrichtenagentur Interfax zurück. Der gestürzte kirgisische Präsident warf der Übergangsregierung zudem Unfähigkeit vor. "Heute steht die kirgisische Republik am Rande ihres Zusammenbruchs. Es sterben Menschen, und niemand von den derzeitigen Machthabern ist in der Lage, ihr Leben zu schützen", sagte Bakijew.

"Wir brauchen Russland"

In einer Wohngegend von Usbeken in Osch gab es weiter Schießereien, wie ein Reporter der Nachrichtenagentur Reuters berichtete. Auf den Straßen lägen mehrere Leichen. Trotz Ausgangssperre setzten vermummte Jugendliche erneut Gebäude in Brand. Tausenden Usbeken, vor allem Frauen und Kindern, gelang am Samstag die Flucht nach Usbekistan. In der Nacht schloss Usbekistan die Grenze kirgisischen Grenzposten zufolge wieder, so dass die Flüchtlinge nicht mehr weiterkamen. Der Konflikt hatte sich zuletzt auch auf Dschalal-Abad und andere Orte ausgeweitet.

Die Staatsgewalt hat kapituliert vor dem Mob: Kirgisische Soldaten helfen Usbeken, die Grenze nach Usbekistan zu überqueren.

Die Staatsgewalt hat kapituliert vor dem Mob: Kirgisische Soldaten helfen Usbeken, die Grenze nach Usbekistan zu überqueren.

(Foto: AP)

Die Behörden begannen unterdessen damit, Verletzte aus der Region auszufliegen. Auch in Moskau landete ein Rettungsflugzeug mit Schwerverletzten aus Osch. Beobachter sprachen von einer "humanitären Katastrophe" und Zuständen wie im Krieg. In Osch drohten Lebensmittel zur Neige zu gehen, Gas und Elektrizität fielen aus. Das usbekische Außenministerium zeigte sich zutiefst besorgt über die blutigen Zusammenstöße.

"Gott hilf uns", flehte eine usbekische Menschenrechtsaktivistin. "Sie töten uns wie die Tiere." Fast ganz Osch stehe in Flammen. "Wir brauchen Russland. Wir brauchen Truppen. Wir brauchen Hilfe." Auch Regierungschefin Otunbajewa erklärte, ausländische Soldaten müssten die Lage in den Griff bekommen. Doch die Moskauer Regierung erklärte nur, Präsident Dmitri Medwedew werde am Montag beim Sicherheitsbündnis der ehemaligen Sowjetstaaten über gemeinsame Reaktionen beraten lassen.

Angst vor einem Bürgerkrieg

In der Region waren schon 1990 durch Gewalt zwischen Usbeken und Kirgisen Hunderte Menschen getötet worden. Damals hatte der frühere sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow Soldaten nach Kirgisistan entsandt. Ein Jahr später wurde Kirgisistan durch den Zerfall der Sowjetunion unabhängig.

In dem Gebiet um Osch und Dschalal-Abad gehört etwa die Hälfte der Bevölkerung der usbekischen Volksgruppe an; im ganzen Land sind es knapp 15 Prozent der Bevölkerung. Die Kirgisen stellen mit insgesamt fast 70 Prozent der 5,3 Millionen im Land lebenden Menschen die Bevölkerungsmehrheit. Sowohl der entmachtete Präsident Bakijew als auch seine Widersacherin Otunbajewa sind Kirgisen. Seit den Protesten gegen Bakijew im April ist das verarmte Land nicht zur Ruhe gekommen, ein Bürgerkrieg wird befürchtet. In Kirgisistan unterhalten sowohl Russland als auch die USA Militärstützpunkte.

Quelle: ntv.de, dpa/AFP/rts

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