Politik

Mit Augenmaß und Skepsis Konservativ ist kein Programm

Eine Frau, ein Zelt, ein Bier: Kanzlerin Merkel auf dem Gillamoos-Jahrmarkt im bayerischen Abensberg.

Eine Frau, ein Zelt, ein Bier: Kanzlerin Merkel auf dem Gillamoos-Jahrmarkt im bayerischen Abensberg.

(Foto: dapd)

Die ersten wandten sich gegen die Französische Revolution, die letzten wahren Konservativen kämpften gegen den Kommunismus. Zu einem echten Programm hat es bei ihnen nicht gereicht. Auch heute braucht niemand konservative Grundsatzpapiere. Konservative dagegen werden durchaus gebraucht - nicht nur in der CDU.

Alle Jahre wieder muss sich Bundeskanzlerin Angela Merkel anhören, sie sei nicht konservativ genug. Sie selbst hatte es kommen sehen. "Bevor ich CDU-Vorsitzende wurde, sagte ein Kollege zu mir: Du musst doch jetzt unbedingt unsere Vorsitzende werden", erzählte sie im vergangenen Jahr bei einem öffentlichen Auftritt. "Dann habe ich gesagt: Aber pass mal auf, ich bin doch gar nicht konservativ genug für euch."

Dass Merkel "nicht konservativ genug" sei, ist leicht dahingesagt. Auch die Begründung ist schnell gefunden: Ihr fehle es an den ewig gültigen Werten, ihre Politik sei zu pragmatisch. Dabei scheinen die Kritiker der Kanzlerin, vom notorischen Mittelstandsunionisten Josef Schlarmann bis zur enttäuschten Talkshowkonservativen Gertrud Höhler, immer ganz genau zu wissen, was eigentlich "konservativ" heißt. Nur: So einfach ist es nicht.

Was konservativ ist, darüber wurde in den mehr als zwei Jahrhunderten, die der Konservatismus auf dem Buckel hat, viel geschrieben. Dennoch haben es die Konservativen bislang nicht geschafft, eine Programmatik zu entwickeln, die über den jeweils aktuellen Rahmen hinausreicht - was aktuell der "Berliner Kreis" in der CDU demonstriert, der es partout nicht schafft, ein Grundsatzpapier zu veröffentlichen. Der Verlust wird zu verschmerzen sein. Zwei Vorgängerpapiere aus dem konservativen Lager der Union, "Mehr Profil wagen" aus dem Januar 2010 und "Moderner bürgerlicher Konservatismus" vom September 2007, sind zu Recht längst vergessen.

Gefühle gegen Vernunft

Ein gewisser Mangel an Programmatik findet sich bereits in der Ur-Schrift des Konservatismus, in den 1790 erschienenen "Betrachtungen über die Revolution in Frankreich" des Briten Edmund Burke. Ihm ging es darum, vor allzu radikalen Neuerungen zu warnen. Er schrieb: "Nur mit unendlicher Vorsicht darf man es wagen, ein Gebäude, das lange Zeit hindurch den allgemeinen Zwecken der Gesellschaft leidlich gedient hat, niederzureißen oder es wieder aufzubauen, ohne dass man Vorbilder und Muster von erprobter Nützlichkeit vor Augen hätte." Gegen die Vernunft der europäischen Aufklärung setzte Burke die "natürlichen Gefühle", die seine englischen Zeitgenossen seiner Ansicht nach für König, Parlament und Adel empfanden.

Das hat sich seit Burke nicht verändert: Der zentrale Grundsatz des Konservativen ist die Ablehnung von Ideologien und eine starke Skepsis gegenüber radikalen Ideen. Eine klare konservative Programmatik gab es folglich immer dann, wenn die Konservativen sich an einem Feindbild abarbeiten konnten. Im Kalten Krieg war der Unique Selling Point der Konservativen ihr kompromissloser Antikommunismus. Sekundäre Merkmale waren eine starke Loyalität zu den USA, ein eher unterkühltes Verhältnis zu den Gewerkschaften sowie ein erstaunlich unbefangenes Verhältnis zu Risikotechnologien. "Konservativ heißt nicht nach hinten blicken, konservativ heißt an der Spitze des Fortschritts marschieren", lautet ein gern von Konservativen zitierter Spruch der CSU-Legende Franz Josef Strauß.

Konservative Widersprüche

CSU-Chef Franz Josef Strauß - hier mit seinem damaligen Generalsekretär Edmund Stoiber - sah Konservative als Fortschrittstreiber.

CSU-Chef Franz Josef Strauß - hier mit seinem damaligen Generalsekretär Edmund Stoiber - sah Konservative als Fortschrittstreiber.

Sein Satz spiegelt das höchst pragmatische Verhältnis zum Fortschritt wider, das Konservative in der alten Bundesrepublik hatten: Fortschritt war, was ökonomisch sinnvoll erschien. Aus Sicht der Konservativen war beispielsweise Kernkraft fortschrittlich: Als erster "Bundesminister für Atomfragen" gehörte Strauß zu den frühesten und vehementesten Verfechtern der Kernenergie in Deutschland. Die Bewahrung der Schöpfung war aus Sicht des konservativen Mainstream dagegen lediglich ein Störfaktor, ein Bremsklotz auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Soziale Veränderungen - etwa mehr Rechte für Frauen, Kinder oder Minderheiten - waren für Konservative grundsätzlich kein Fortschritt.

Nicht nur mit Blick auf den Fortschritt war der Konservatismus häufig widersprüchlich: Sein Antikommunismus hinderte Strauß nicht daran, enge Kontakte zu dubiosen Figuren wie dem DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski zu pflegen. Selbst die Bindung an die USA ging einher mit einer Ablehnung der amerikanischen Popkultur, mit einer Verachtung für die "Amerikanisierung" der bundesdeutschen Gesellschaft.

Mit dem kommunistischen Feind verloren die Konservativen ihre wichtigste Stütze: Das post-ideologische Zeitalter läutete nicht den Siegeszug der Konservativen ein, sondern stürzte sie in eine tiefe Ratlosigkeit. Was tun, wenn konservative Werte plötzlich so universell sind, dass auch Homosexuelle heiraten und Kinder haben wollen? Die Reaktionen der Alt-Konservativen klingen weniger nach plausiblen Argumenten als nach dem, was Burke die "natürlichen Gefühle" nannte. "Unsere Zukunft liegt in der Hand der Familien, nicht in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Neben der Euro-Krise ist die demografische Entwicklung die größte Bedrohung unseres Wohlstands", postulierte jüngst die CDU-Politikerin Katherina Reiche in der "Bild"-Zeitung.

Diffuses Unbehagen

Konservative wie Reiche müssen Papp-Kameraden aufbauen, um ihren Kampf zu fechten: "Weil die Ehe von Mann und Frau für einige an Bedeutung verloren hat, dürfen wir sie als Lebensentwurf nicht grundsätzlich infrage stellen." Der wahre Gehalt solcher Sätze ist ein diffuses Gefühl von Unbehagen in der Moderne. Niemand hat die Ehe von Mann und Frau als Lebensentwurf infrage gestellt, im Gegenteil: Auch viele Homosexuelle beanspruchen diesen Lebensentwurf einer konservativen Ehe für sich.

Als Gefühl von Unbehagen ist Reiches Position zweifellos legitim. Mit einem politischen Programm, gar mit politischen Grundsätzen, hat das allerdings nichts zu tun. Es gibt Konservative, die das wissen: Anders als Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sei Konservatismus gar kein Wert, schrieb Verteidigungsminister Thomas de Maizière vor zwei Jahren in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", als in der CDU wieder einmal eine K-Debatte lief. "Konservativ zu sein, das ist eher eine Haltung."

Diese Haltung ist mit einer Vielzahl von politischen Positionen kompatibel. Im Jahr 2012 können Konservative für oder gegen die Energiewende sein, für oder gegen das geplante Betreuungsgeld, sie können Christdemokraten oder Grüne sein. Und homosexuell.

Aber was ist dann noch konservativ? "Konservativer Fortschritt arbeitet mit Augenmaß an humanen Verhältnissen in einer dynamischen Welt", schlug der Historiker Paul Nolte als Definition vor. Unter diesem Satz können sich Politiker mit sehr unterschiedlichen Zielen versammeln. Gemeinsam wäre ihnen jedoch, dass sie auf der Basis des Machbaren für Verbesserungen sorgen wollen und wie seinerzeit Burke Ideologien ablehnen und skeptisch sind gegenüber brachialen Neuerungen. Mit Augenmaß für humane Verhältnisse: Merkels Kritiker sollten mal prüfen, ob die Kanzlerin in dieser Hinsicht nicht vielleicht doch konservativ genug ist.

Quelle: ntv.de

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