Versöhnen statt spalten Kraft auf den Spuren von Rau
15.09.2010, 17:03 UhrDie Abrechnung mit der schwarz-gelben Vorgängerregierung fällt aus - schließlich ist die rot-grüne Koalition NRW-Ministerpräsidentin Kraft auf Stimmen von CDU, FDP und Linken angewiesen. Bei ihrer ersten Regierungserklärung nannte sie als Vorbild den früheren Ministerpräsidenten Rau.
Nach gut 90 Minuten Regierungserklärung gab es stehenden Beifall für Hannelore Kraft - freilich nur von der Hälfte der Düsseldorfer Landtagsabgeordneten, genauer gesagt: ganz knapp der Hälfte. Denn eine Stimme fehlt der von der SPD-Ministerpräsidentin geführten rot-grünen Landesregierung im NRW-Parlament an der absoluten Mehrheit, und so rührte sich bei den Oppositionsfraktionen von CDU, FDP und Linken erwartungsgemäß keine Hand zum Beifall für die Regierungschefin. Dabei hatte Kraft zuvor durchaus geschickt den Versuch unternommen, aus der Not der fehlenden Stimme die Tugend eines neuen, offeneren Regierungsstils zu machen.
"Diese Landesregierung wird für jede Entscheidung eine Mehrheit suchen", unterstrich Kraft bei ihrem ersten großen Landtags-Auftritt als Ministerpräsidentin. Die erste Minderheitsregierung in der NRW-Geschichte sei aber "auch eine Chance für Parlament und politische Parteien" und eine "Herausforderung für Regierung und Opposition". Beide hätten nun die Chance, bei den Bürgern Respekt, Anerkennung und Zustimmung zu erwerben, "wenn sie mit dieser Situation verantwortungsvoll umgehen". Denn die Bürger, zeigte sich Kraft überzeugt, wollten "weder Fundamentalopposition noch mutloses Regieren".
Höhere Schulden
In der Tat werden Kraft und ihr Landeskabinett jede Menge Mut beim Regieren mit wechselnden Mehrheiten brauchen. Bei zentralen Vorhaben wie der Abschaffung der Studiengebühren, längerem gemeinsamem Lernen in der Schule oder auch einer besseren Finanzausstattung der Kommunen wird Rot-Grün mal auf die Unterstützung von Schwarz oder Gelb, mal auf Stimmen der Linken angewiesen sein. Und das alles vor dem Hintergrund einer desolaten Finanzlage: Allein die Neuverschuldung im rot-grünen Nachtragshaushalt für 2010 beläuft sich auf 8,9 Milliarden Euro - Schwarz-Gelb hatte zu Regierungszeiten noch rund 6,6 Milliarden neue Schulden veranschlagt.
Mit dieser vergleichsweise geringen Summe habe die Vorgängerregierung "politischen Bilanzbetrug" begangen, hieß es zuletzt bei Rot-Grün. Im Gegenzug hielt Schwarz-Gelb Krafts Minderheitsregierung "hemmungsloses Schuldenmachen" vor. Auch bei Krafts erster Regierungserklärung quittierten CDU und FDP die rot-grüne Finanzpolitik mit Kopfschütteln und lautstarken Protesten. "Wir stehen für eine nachhaltige Finanzpolitik", versicherte Nordrhein-Westfalens erste Ministerpräsidentin zwar dem Parlament - bei Christdemokraten und Liberalen erntete sie für dieses Versprechen freilich nur höhnisches Gelächter.
Keine Abrechnung mit Rüttgers
Auf eine politische Abrechnung mit der im Mai abgewählten schwarz-gelben Landesregierung unter ihrem Vorgänger Jürgen Rüttgers (CDU) verzichtete Kraft weitgehend in ihrer Regierungserklärung. Und auch die Namen der beiden letzten SPD-Ministerpräsidenten vor Rüttgers, Wolfgang Clement und Peer Steinbrück, erwähnte die Regierungschefin nicht. Dafür aber sprach Kraft gleich zweimal vom verstorbenen Johannes Rau, der heute noch für viele an Rhein und Ruhr wie kein anderer die Figur des Landesvaters verkörpert. Kraft erinnerte an Raus Zitat "Tun, was man sagt, und sagen, was man tut", mit dem der frühere Düsseldorfer SPD-Ministerpräsident einst die Erwartung der Menschen an die Politik beschrieben hatte.
Außerdem kündigte Kraft an, eine ihrer ersten Auslandsreisen werde sie demnächst nach Israel führen. "Das besondere Engagement von Johannes Rau für die Freundschaft zwischen Israel und Nordrhein-Westfalen ist für mich Vorbild." Nach Landesvater Rau nun also Landesmutter Kraft - jedenfalls ließ die Rüttgers-Nachfolgerin in ihrer programmatischen Rede keinen Zweifel daran, dass sie eine volksnahe Ministerpräsidentin sein will. Sie werde einmal im Monat in Betrieben oder öffentlichen Einrichtungen arbeiten, versprach Kraft. "Ich will die Nähe zu den Menschen nicht verlieren, und ich will Bodenhaftung behalten."
Quelle: ntv.de, Richard Heister, AFP