Die Kanzlerin redet im Bundestag erstmals ausführlich über den Streit mit der türkischen Regierung und die Wahlkampfauftritte in Deutschland. Aber ein anderer ist schneller.
Norbert Lammert macht an diesem Morgen etwas Ungewöhnliches. Die Eröffnung der Bundestagssitzung ist eigentlich nur eine Formalie. Erster Punkt der Tagesordnung ist die Regierungserklärung der Kanzlerin zum EU-Gipfel. Die Parteien haben sich geeinigt, die Debatte zu verlängern und das Thema Türkei miteinzubeziehen. Was wird Angela Merkel über die Verstimmungen mit der Regierung in Ankara sagen? Wird sie überhaupt? Offenbar hat auch Lammert die Befürchtung, die Kanzlerin könnte das Thema vernachlässigen.
Bevor der Bundestagspräsident das Wort übergibt, will er deshalb noch schnell etwas loswerden. "Wer dieses Land öffentlich verdächtigt, Nazi-Methoden anzuwenden, wenn seine Behörden und gewählten Repräsentanten im Rahmen unserer Verfassungsordnung handeln, disqualifiziert sich selbst", sagt er. Zudem erwarte man "von jeder ausländischen Regierung, und schon gar von jedem Partnerland, dass es die Rechte, die ihre Vertreter bei uns in Anspruch nehmen, auch ihren eigenen Landsleuten zuhause in gleicher Weise garantieren". Lammert fügt hinzu: "Hierzulande kann jeder seine Meinung sagen, auch ausländische Gäste. Wir aber auch."
Deutliche Sätze, die sich sogar mancher Unionspolitiker zuletzt von der Kanzlerin gewünscht hätte. Es ist eine Art Regierungserklärung vor der Regierungserklärung. Dann übergibt Lammert das Wort an die Kanzlerin. Im Saal gibt es Gelächter über den überraschenden Auftritt Lammerts. Der sagt fast etwas entschuldigend: "Ich hab zum EU-Gipfel keinen Satz gesagt, Frau Bundeskanzlerin." Merkel schaut nur kurz etwas irritiert und entgegnet: "Das stimmt." Unbeeindruckt lässt sie die Vorlage zum Thema Türkei erst einmal links liegen. Sie widmet sich zunächst dem bevorstehenden EU-Gipfel. Merkel betont die Bedeutung eines starken Europas für Deutschland. Erst dann pirscht sie sich langsam an das brisante Thema heran.
"Nicht würdig"
Beim Thema Flüchtlinge angekommen, betont Merkel die Bedeutung migrationspolitischer Partnerschaften mit Drittstaaten. Seit die EU-Türkei-Vereinbarung in Kraft sei, gebe es weniger Tote in der Ägäis und bessere Lebensbedingungen der Flüchtlinge in Jordanien und im Libanon. Und dann kommt Merkel zum Punkt. Sie redet über die "tiefgreifenden Differenzen". Mit der türkischen Regierung, mit wenigen Ländern gebe es gleichzeitig so komplizierte wie vielfältige Interessen. "Umso deprimierender" seien die Äußerungen aus der Türkei, mit denen der türkische Präsident Erdogan und andere Regierungsmitglieder die Bundesrepublik in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt hätten. Merkel wird noch deutlicher. "Das ist so deplatziert, dass man es eigentlich ernsthaft gar nicht kommentieren kann. Zu rechtfertigen ist es schon überhaupt gar nicht." NS-Vergleiche führten immer "ins Elend" und verharmlosten die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus.

Drei Grünen-Politiker protestierten im Bundestag mit T-Shirts gegen die Inhaftierung Yücels.
(Foto: picture alliance / Michael Kappe)
Merkel fordert: "Diese Vergleiche der Bundesrepublik Deutschland mit dem Nationalsozialismus müssen aufhören. Sie sind der engen Verflechtungen und Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei und unseren beiden Völkern politisch, gesellschaftlich, als Nato-Partner und wirtschaftlich nicht würdig." Die Kanzlerin spricht sich für die Freilassung des in der Türkei inhaftierten "Welt"-Journalisten Deniz Yücel aus. Die Auftritte türkischer Politiker in Deutschland will sie dennoch nicht verbieten. Eigene Werte wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Redefreiheit und Versammlungsrechte sollen auch für Regierungsvertreter der Türkei gelten, die in Deutschland für das umstrittene Referendum am 16. April werben. Merkel redet von einer "äußerst schwierigen Gratwanderung". So unzumutbar manches sei, stellt sie klar: "Unser außen- und geopolitisches Interesse kann es nicht sein, dass die Türkei sich noch weiter von uns entfernt."
Merkels Worte und ihre Kritik am forschen Verhalten der türkischen Regierung sind für ihre Verhältnisse deutlich, von ihrer bisherigen Linie weicht sie jedoch nicht ab. Nach der Rede gibt es einen Zwischenfall. Drei Grünen-Abgeordnete erheben sich, sie tragen weiße T-Shirts mit der Aufschrift "#FreeDeniz". Lammert fordert sie auf, den Saal zu verlassen. Dietmar Bartsch ist der erste, der auf Merkels Regierungserklärung antwortet. Den Linken gehen Merkels Worte nicht weit genug. Aus Sicht ihres Fraktionschefs ist sie allzu nachsichtig gegenüber der türkischen Regierung und schöpft längst nicht alle Möglichkeiten aus. Wie Helmut Kohl 1992 solle sie die Waffenexporte an die Türkei stoppen, fordert Bartsch, und verlangt auch, die EU-Vorbeitrittshilfen einzufrieren. Er wirft Merkel vor, sie habe "den Despoten" Erdogan stark und sich mit dem Flüchtlingsabkommen erpressbar gemacht.
"Sagt bitte Nein!"
Bei einzelnen Äußerungen Bartschs klatschen sogar Abgeordnete von Grünen und SPD - es gibt zumindest minimalen rot-rot-grünen Grundkonsens. Dass die Außen- und Verteidigungspolitik in den Überlegungen über ein mögliches Bündnis zwischen den drei Parteien nach der Bundestagswahl wohl das schwierigste Thema ist, lässt sich aber einige Minuten später beobachten. Während der Rede von SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann gibt es eine Zwischenfrage von Jan van Aken. Dem außenpolitischen Sprecher der Linken wurde am Mittwoch ein Besuch der Bundeswehrsoldaten im türkischen Konya verweigert. "Sind Sie nicht auch der Meinung, dass neben all den guten Worten endlich mal konkretes Handeln kommen muss", fragt van Aken. "Finden Sie nicht auch, solange keine Besuche möglich sind, kann die Bundeswehr nicht weiter aus der Türkei operieren?"
Oppermann lehnt das ab. Es wäre falsch, wenn der Gesprächsfaden abreiße, an einer weiteren Eskalation habe man kein Interesse. In den Reihen der Linken gibt es empörte Zwischenrufe. Kurz darauf kritisiert Oppermann immerhin die Forderung, die Nato-Ausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Damit sind die Linken wiederum einverstanden. Dennoch bleiben die Fronten klar. Oppermann ist loyal, seine SPD ist schließlich Regierungspartei. Er lobt nicht nur SPD-Außenminister Sigmar Gabriel, sondern auch die Kanzlerin für ihre Haltung beim Thema Türkei.
Grünen-Chef Cem Özdemir wendet sich kurz darauf direkt an die Türken in Deutschland: "Sagt bitte Nein zum Referendum. Nehmt den Menschen in der Türkei nicht die Freiheit, die ihr hier genießt." Etwas später tritt die Linken-Politikerin Sevim Dagdelen an das Podium. Sie schimpft darüber, dass Merkel den Saal schon verlassen habe und der Opposition nicht zuhören wolle - was nicht stimmt. Und erneut greift Lammert ein. Die Kanzlerin sei doch noch im Saal, sagt er und deutet in eine der hinteren Reihen des Plenums, wo Merkel sich zu einem Gespräch zurückgezogen hat. Sie erhebt sich kurz und nickt. Lammerts Geste ist angekommen. Es ist vielleicht eine kleine Wiedergutmachung dafür, dass er sie heute ein bisschen geärgert hat.
Quelle: ntv.de