Politik

Erste Bundestagssitzung ungewohnt konfliktreich Lammert schont weder Merkel noch die Union

Norbert Lammert nimmt Glückwünsche zu seiner Wiederwahl als Bundestagspräsident entgegen - danach sparte er nicht mit Kritik.

Norbert Lammert nimmt Glückwünsche zu seiner Wiederwahl als Bundestagspräsident entgegen - danach sparte er nicht mit Kritik.

(Foto: REUTERS)

Während sich die neuen Abgeordneten noch etwas unsicher im Bundestag bewegen, macht Norbert Lammert die erste Sitzung zu seiner Bühne. Scharf greift der Bundestagspräsident vor allem seine eigene Fraktion an. Und das ist nicht der einzige Konflikt, der den Tag bestimmt.

Zuerst sind die Neuen da. Die frisch gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestags können ihre Nervosität nicht ganz verbergen, als sie zum ersten Mal den Plenarsaal betreten. Eine feste Sitzordnung gibt es innerhalb der Fraktionen nicht, und so streifen sie durch die Reihen auf der Suche nach einem angemessenen Sitzplatz: Weit vorne hat man die beste Sicht und einen Tisch, aber die meisten Neugewählten entscheiden sich dann doch lieber für einen Platz weiter hinten. Wer von ihnen Hinterbänkler bleibt und wer es nach vorne schafft, wird sich erst im Laufe der kommenden vier Jahre entscheiden. Handys werden gezückt, auf den Erinnerungsfotos ist im Hintergrund der gewaltige Bundesadler aus Stahl zu sehen.

Während unten Jungpolitiker auf der Suche nach ihrem Platz im politischen Berlin sind, geben drei Etagen weiter oben alte Herren Statements für die Kameras. Die Fernsehteams stehen eng beieinander, die Politiker haken einen Sender nach dem anderen ab. Hier oben zwischen den Fraktionsräumen ist die konstituierende Sitzung des 18. Deutschen Bundestags auch nur ein Meeting – und noch nicht einmal ein besonders spannendes. Durch die gläserne Kuppel des Reichstags ist zu sehen, wie sich der Plenarsaal langsam füllt. Auf den Plätzen liegt der neue "Kürschner", das Verzeichnis der Abgeordneten. Wer keinen Smalltalk mit den Kollegen führen möchte, der blättert in dem rot-weiß gestreiften Heft. So auch der ehemalige Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, der ganz allein in der ersten Reihe der SPD-Fraktion auf den Beginn der Sitzung wartet.

Riesenhuber gewohnt verschroben

Auf die Rede des Alterspräsidenten Heinz Riesenhuber haben sich viele gefreut. Der 77-Jährige mit der Fliege ist schon durch seine etwas verschrobene Art und die unglaubliche Gelassenheit, mit der er am Rednerpult steht, eine lustige Erscheinung. Wenn er von der Energiewende spricht, sagt er, Deutschland werde "das Reich der erneuerbaren Energien errichten". Zum demografischen Wandel führt er aus: "Das Alter ist eine neue Lebensphase, die uns geschenkt ist. Da kann man reisen, da kann man angeln." Die Abgeordneten lachen. Renate Künast von den Grünen twittert "Hä?". Riesenhuber ist ein Relikt, das etwas Würze in die fade Veranstaltung bringt. Dass er in der parlamentarischen Arbeit sonst eine untergeordnete Rolle spielt, bedauert aber auch niemand.

Nur selten ist es im Bundestag so voll wie bei der konstituierenden Sitzung. Die Regierungsbank bleibt leer.

Nur selten ist es im Bundestag so voll wie bei der konstituierenden Sitzung. Die Regierungsbank bleibt leer.

(Foto: imago stock&people)

Riesenhubers eigentliche Aufgabe ist es, einen neuen Bundestagspräsidenten wählen zu lassen. Ohne Gegenkandidaten bekommt der bisherige Amtsinhaber Norbert Lammert 95 Prozent der Stimmen, ein extrem gutes Ergebnis. Lammert lehnt sich lässig in seinem Stuhl zurück, als er den Applaus entgegennimmt. Er weiß, wie stark seine Position nach acht Jahren im Amt nun ist. Besonders bedankt er sich bei der Union, die ihn vorgeschlagen hat, obwohl sie doch wisse, dass er "in den eigenen Reihen nicht immer stürmische Begeisterung erzeugt". "Stimmt", ruft da Volker Kauder, der Fraktionsvorsitzende. Was damit gemeint ist, bekommen die Abgeordneten von CDU und CSU bald zu hören. Lammert kritisiert sie scharf.

Lammert wendet sich gegen eigene Partei

Erstens: Das Parlament sei ab sofort arbeitsfähig und habe die Regierung zu kontrollieren. Doch Union und SPD hatten die erste Sitzungswoche einfach abgesagt. Genau das kritisiert Gregor Gysi von der Linken seit Tagen. Gysi hätte gerne die Zeit vor Ende der Koalitionsverhandlungen genutzt, um die SPD mit Anträgen zum Mindestlohn unter Druck zu setzen. Mit der Hilfe der Union konnte sich die SPD davor drücken.

Zweitens: Lammert fordert deutlich, die Rechte der Opposition zu stärken. Linke und Grüne haben zurzeit nicht genug Stimmen, um etwa Untersuchungsausschüsse zu beantragen. Lammert dringt darauf, die Geschäftsordnung zu ändern, von seiner eigenen Partei bekommt er dafür nur verhaltenen Applaus.

Drittens: Der Bundestag habe in den vergangenen vier Jahren 15.000 Drucksachen produziert, sagt Lammert, ein "zweifelhafter Rekord". Und dann betont er jedes einzelne Wort: "Es. Sind. Zu. Viele." Die Bundeskanzlerin drückt da gerade auf ihrem Handy herum, als sie kurz applaudiert, berühren sich ihre Hände genau ein Mal.

Viertens: Um das Wahlrecht verfassungskonform zu gestalten, wurden in diesem Jahr Ausgleichmandate eingeführt, die den Bundestag größer machen, als es eigentlich vorgesehen ist. Für die Parteien hatte die Reform Vorteile: Sie können mehr Abgeordnete entsenden als zuvor. Bei dieser Wahl führte das zu keinen großen Problemen, für die Zukunft fürchtet Lammert aber eine Aufblähung des Parlaments – und fordert nun, dass der Bundestag wieder kleiner wird. Eine solche Reform wäre ein Mammutprojekt.

Wie viele Präsidenten sind genug?

Beim folgenden Tagesordnungspunkt kommt es zur ersten Debatte im neuen Bundestag – eigentlich unüblich für die erste Sitzung. Linke und Grüne kritisieren, dass Union und SPD zusätzliche Posten für Vize-Bundestagspräsidenten schaffen. Die beiden größten Fraktionen sollen zukünftig durch je zwei Stellvertreter im Präsidium vertreten sein, für die beiden kleinen Fraktionen bleibt es bei einem Posten. Der Plan wurde bekannt, nachdem die Parteigremien von CDU, CSU und SPD die Koalitionsverhandlungen gebilligt hatten. Die Linke spricht darum von einem ersten "Deal" der zukünftigen Koalitionspartner. Auch die Grünen greifen das Vorhaben scharf an. Doch Union und SPD nutzen zum ersten Mal ihre übergroße Mehrheit, um die Regelung durchzubringen.

Trotz des Streits werden dann die Kandidaten für diese Ämter mit großen Mehrheiten gewählt. Als später die Nationalhymne verklingt, leeren sich die Reihen wieder. Lammert lädt die Volksvertreter zu einem Empfang, die Minister holen sich später ihre Entlassungsurkunden ab. Zu den letzten im Plenarsaal gehören die altgedienten SPD-Politikerinnen Edelgard Bulmahn und Ulla Schmidt, die beide seit über zwanzig Jahren Abgeordnete sind und eben zu stellvertretenden Parlamentspräsidentinnen gewählt wurden. Zuerst stehen sie etwas verloren mit ihren Blumensträußen herum. Dann bitten sie einen Kollegen, ein Erinnerungsfoto zu machen – mit dem gewaltigen Bundesadler aus Stahl im Hintergrund.

Quelle: ntv.de

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