Politik

Abgebrannt, aber glücklich Leer war mal die ärmste Stadt Deutschlands

War vor 30 Jahren noch eine echte Industriestadt: Leer

War vor 30 Jahren noch eine echte Industriestadt: Leer

(Foto: Stadtarchiv Leer)

Mehr als 30 Prozent Arbeitslosigkeit und kaum Perspektiven: Als vor 30 Jahren die letzte Werft in Leer schließen musste, sah es düster aus für das ostfriesische Städtchen. Heute boomt Leer dank cleverer Stadtplanung - und der Globalisierung.

Es gibt Regeln im Leben und eine dieser Regeln besagt: Eine Stadt, die arm ist, hat auch arm auszusehen - woran sollte man sonst erkennen, dass sie arm ist? Die derzeit bedürftigste Stadt Deutschlands - Gelsenkirchen - erfüllt ihre Aufgabe jedenfalls vorbildlich. Von schmutziggrauen Reihenhäuschen über verfallene Einkaufsstraßen bis zu tumoresken Spielhallen ist in der ehemaligen Bergarbeiterhochburg alles am Start, was optisch eben so erwartet wird. Ganz anders dagegen das ostfriesische Leer, das in den 1980ern die zweifelhafte Ehre hatte, den Titel tragen zu dürfen.

Reportageserie Mittelstädte

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"Was ein Ort heute so braucht, ist vorhanden. Viele Kaufläden und etwas Kulturbetrieb, die nötigsten Bildungsstätten sowie eine Fußgängerzone, in der es manchmal ganz hektisch zugeht", notierte ein "Spiegel"-Reporter fast schon pikiert, als er 1987 in die 35.000-Einwohner-Stadt fuhr, um ein Porträt über das vermeintliche Armenhaus Deutschlands zu schreiben. Denn "in dieser Ortschaft, die sich so herzeigt, als sei sie wie jede andere oder vielleicht noch ein bißchen netter, gibt es mehr Arbeitslose als irgendwo sonst in der Bundesrepublik. Gut 20 Prozent sind es in Leer und Umgebung im Jahresdurchschnitt, und zwar schon seit vielen Jahren. Im Winter steigt die Quote auf ein Drittel der erfassten Erwerbspersonen".

30 Prozent Arbeitslosigkeit? Was für eine Zahl! In Zeiten, in denen ein Arbeitslosentiefstwert den nächsten jagt, die Statistik für Deutschland einen Anteil von 5,8 Prozent nennt und trotzdem gefühlt alles immer schlechter wird, mag man sich die Zustände kaum ausmalen, die damals in Leer geherrscht haben müssen. No-go-Areas, Drogen, Kriminalität, marodierende Jugendbanden, englische Verhältnisse doch wohl mindestens?

"Leer konnte man am Geruch erkennen"

Oder ganz einfach: nichts dergleichen. "Ich habe von Armut hier nie etwas mitbekommen und auch eine Ghettoisierung hat es nie gegeben", sagt Knut Hantke. Der Sozialarbeiter müsste es eigentlich wissen, schließlich arbeitet er bereits seit 1982 im Jugendzentrum von Leer - also an einem Ort, an dem oft zuerst sichtbar wird, wenn die Schweißnähte des Wohlstands auseinanderzuplatzen drohen. Warum sich die statistische Armut nicht auch auf der Straße ausgedrückt hat? "Das hat sicher auch mit der Bodenständigkeit der Menschen hier zu tun", wagt Hantke eine vorsichtige Einschätzung der Lage.

Bodenständigkeit ist ein Wort, das man sich merken sollte, wenn man in Ostfriesland unterwegs ist - und die Lieblingserklärung der Menschen dafür, warum Leer so entspannt durch die turbulenten 80er-Jahre gesegelt ist. Doch auch wenn dem pittoresken Städtchen die Schwierigkeiten offenbar nicht anzusehen waren, wegleugnen lassen sie sich ebenfalls nicht. Noch ein paar wirtschaftlich verheerende Jahre mehr und selbst die ostfriesische Bodenständigkeit hätte vielleicht nicht mehr ausgereicht. Dass es gar nicht erst so weit kam, ist Menschen wie Wolfgang Kellner zu verdanken.

"Auch wenn es keinen oder kaum sozialen Niedergang gab und der Ostfriese an sich ja nicht leicht umzuhauen ist, gab es damals trotzdem so etwas wie eine Krisenstimmung: 'Wo sollen unsere Kinder denn mal arbeiten?' war eine Frage, die man oft gehört hat", beschreibt der ehemalige Bürgermeister, der von 2001 bis 2014 die Geschicke der Stadt leitete und davor als Stadtkämmerer maßgeblich für den Weg verantwortlich zeichnete, den Leer einschlug, die Ausgangslage Anfang der 90er-Jahre. "Eine passive Sanierung, die Leute also einfach wegziehen lassen, das wollten wir nicht." Kellner und seine Kollegen konnten damals noch nicht wissen, dass sie aufs richtige Pferd gesetzt hatten, aber Beispiele wie Bitterfeld zeigen heute sehr deutlich, welche Gefahren vermeintlich einfache Lösungen wie eine passive Sanierung mit sich bringen können.

"Leer konnte man am Geruch erkennen: Die Melange aus Spanplatten, Schweröl, Tabak und Keksen war einmalig", umschreibt Kellner die wirtschaftliche Ausgangslage, aus der Leer vor der Krise kam, olfaktorisch. Im Klartext: Die Industrie war stark in der ostfriesischen Ortschaft. Nach und nach mussten all diese Wirtschaftszweige dichtmachen, das Werftensterben in den 80ern traf Leer dann besonders hart. Was also tun mit all der freigewordenen Arbeitskraft? "Es hört sich merkwürdig naheliegend an, aber wir sind erst bei unseren Überlegungen auf die maritime Seite gestoßen", sagt Kellner.

"Leer wird nie eine Touristenstadt"

Stadtplaner und Politiker setzten in der Folge auf eine kombinierte Strategie, um die wirtschaftliche Talfahrt aufzuhalten: Die Stadt beschloss weitgreifende Steuersenkungen für Reedereien und schaffte es so nicht nur, die bestehenden Unternehmen nach dem Wegfall der Werften vor Ort zu halten, sondern auch, neue Reeder anzulocken. Mit durchschlagendem Erfolg: Heute ist Leer nach einer anderen deutschen Stadt ohne direkte Anbindung zum Meer, nämlich Hamburg, zweitgrößter Reederstandort in der Bundesrepublik.

So sah es auf der Halbinsel Nesse vor 30 Jahren aus - kein Vergleich zu heute (siehe Bilderserie)

So sah es auf der Halbinsel Nesse vor 30 Jahren aus - kein Vergleich zu heute (siehe Bilderserie)

(Foto: Stadtarchiv Leer)

Und dann: Tourismus. "Ein Kollege hat mal gesagt: Leer wird nie eine Touristenstadt. Heute ist es eine Touristenstadt erster Güte", konstatiert Kellner. Rund 1500 Jobs hängen direkt oder indirekt vom Fremdenverkehr ab. Vor allem im Sommer ist Leer mit seiner pittoresken Altstadt ein Magnet für Gäste - ganz im Gegensatz zum knapp 30 Kilometer entfernten Emden, das zwar direkten Zugang zum Meer besitzt, aber im zweiten Weltkrieg fast vollständig zerbombt und danach ähnlich lieblos wie Kiel wiedererrichtet wurde.

Das viele Wasser, die hübsch geklinkerten Gässchen und heimelig eingerichteten Teestübchen - man versteht auf Anhieb, was den Leuten hier gefällt. Vor allem aber auch: die Preise. Auf dem Wochenmarkt gibt es eine große Portion Grünkohl mit Pinkel zum selben Preis, den man andernorts für eine ledrige Bratwurst im Pappbrötchen zahlen würde. Und selbst auf dem Restaurantschiff Spiekeroog, das auf der anderen, der schicken Seite der Leda ankert, können sich Gäste mittags für 7,50 Euro sattessen - viel teurer wird es dann auch nicht mehr, wenn man nicht gerade Lust auf etwas besonders Ausgefallenes hat.

Die Lebenshaltungskosten sind einer der wenigen Punkte, an denen sich überhaupt noch erkennen lässt, dass Leer auch mal ganz andere Zeiten durchgemacht hat. Im Schnitt ist es hier in Ostfriesland immer noch deutlich günstiger als in vielen anderen Regionen Deutschlands, was natürlich auch mit dem allgemeinen Lohngefüge zu tun hat: Für viele Arbeitgeber von außerhalb ist Leer im direkten Vergleich ein Billiglohngebiet - und dazu noch eines, in dem sich auch die Arbeitnehmer wohlfühlen.

"Leer auf der Gewinnerstraße"

Auch deshalb zog es eine ganze Reihe von Unternehmen, vornehmlich aus dem Technologie- und Finanzsektor, nach Leer, wo sie im Zusammenspiel mit den Reedereien regelrechte Cluster gebildet haben. Die kann man sehen, wenn man von der Altstadt aus über den Fluss schaut, wo moderne Gebäude aus Glas und Stahl den Blick einfangen. Die Halbinsel Nesse ist der zweite Punkt, an dem der Wandel hautnah erfahrbar wird, den Leer durchgemacht hat: Vor 30 Jahren war die andere Seite noch komplett mit Industrie(brachen) verbaut und ein echter Schandfleck - heute ist die Hafencity in Miniaturausführung das Aushängeschild der Stadt.

Ein Aushängeschild, das trotz all der vorausschauenden Stadtplanung kaum möglich gewesen wäre, denn "die Wende zum Positiven kam Mitte der 90er und war nicht allein hausgemacht", sagt Ex-Bürgermeister Kellner. "Globalisierung und Digitalisierung haben Leer auf die Gewinnerstraße gebracht." Je enger die Welt zusammenrückte, desto weniger wichtig war plötzlich der physische Standort: Das Internet verschob Leer mehr oder weniger auf einen Schlag vom Rand der globalen Wirtschaftskarte ins Zentrum. Theoretisch galt das natürlich für alle deutschen Städte gleichermaßen, die Leeraner hatten aber früh genug die Zeichen der Zeit erkannt und die entsprechenden Weichen gestellt.

Ein Patentrezept für das Aufpäppeln abgehängter Regionen kann man sich in Leer trotzdem nicht abschauen: Jede Stadt bringt eigene Voraussetzungen und Herausforderungen mit - was in Leer funktioniert hat, muss anderswo noch lange nicht klappen. Ein paar Dinge lassen sich dann aber doch ableiten: "Der zweigleisige Kurs, unsere Fokussierung sowohl auf Kultur und auf Wirtschaft, hat den Unterschied gemacht", erklärt Kellner den Wandel zum Besseren. Die Aussage des Bürgermeisters ergibt durchaus Sinn, wenn man den Blick auf Städte mit einer ähnlich schwierigen Geschichte richtet, die trotz wirtschaftlichen Aufschwungs heute mit Entvölkerung und Ähnlichem zu kämpfen haben.

Wie viel indes die vielgerühmte Bodenständigkeit der Ostfriesen mit dem Überstehen der Krise zu tun hatte, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Schön anzusehen ist sie aber allemal: Sich selbst und seine Probleme zu wichtig nehmen, das scheint in Leer kaum möglich. Oder wie Sozialarbeiter Hantke sagt: "Es spitzt sich hier selten etwas zu, das finde ich bewundernswert." "Sutsche" heißt diese ganz besondere Form der Entschleunigung auf Hamburger Platt - ein Begriff, von dem sie in Leer noch nie gehört haben. Aber warum auch, die wörtliche Übersetzung müsste ja eh "Ostfriese" lauten.

Quelle: ntv.de

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