Politik

Erste Wahlen seit 1964 Libyer testen das Prinzip Urne

Mit Libyen wählt ein weiteres arabisches Revolutionsland seine zukünftige Führung. Wenn auch, wie in diesem Fall, noch über Umwege.

Mit Libyen wählt ein weiteres arabisches Revolutionsland seine zukünftige Führung. Wenn auch, wie in diesem Fall, noch über Umwege.

(Foto: dpa)

Neun Monate nach dem Tod von Langzeitherrscher Gaddafi gehen die Libyer zum ersten Mal zur Wahl. Es ist ein ambitioniertes Projekt in einem Land, das Wahlen gar nicht kennt. Wie in vielen Ländern des arabischen Frühlings steht auch diese Abstimmung im Zeichen des Konflikts zwischen Säkularisten und Islamisten.

"Die Menschen stehen schweigend in langen Reihen, um ihre Stimmzettel in die Wahlurnen zu werfen, genauso, wie sie andere Papiere in den Abfalleimer werfen. Das ist die in der ganzen Welt vorherrschende traditionelle Demokratie." Diese Sätze schrieb Muammar al-Gaddafi als noch junger Revolutionsführer von Libyen. Seine Lösung des "Problems der Demokratie" legte er im "Grünen Buch" dar, das von 1975 an als Masterplan zum Aufbau seines Staates dienen sollte.

Ein Deutsch-Libyer hat in Berlin seine Stimme abgegeben.

Ein Deutsch-Libyer hat in Berlin seine Stimme abgegeben.

(Foto: Nora Schareika)

Gaddafi erfand sogar ein neues arabisches Wort für diese Form der Republik: Nicht mehr nur das Volk sollte hier formal die Herrschaft haben, sondern ganze "Volksmassen" - und das bei einer Bevölkerungsdichte von ungefähr drei Personen pro Quadratkilometer! Repräsentative Demokratie hielt Gaddafi für Diktatur, Parlamente geißelte er als eine "Missrepräsentation" des Volkes. Gaddafis Lösung bestand in einem System aus Volkskongressen und Volkskomitees, die sich gegenseitig kontrollieren sollten. "Herrschaft des Volkes über das Volk", nannte er das.

Beobachter loben gute Organisation

Neun Monate nach seinem Tod und 48 Jahre nach der letzten Wahl unter dem damaligen Herrscher König Idris versuchen es die Libyer an diesem Samstag doch noch einmal einmal mit dem Prinzip Urne. 2,8 Millionen Libyer haben sich registrieren lassen, um einen allgemeinen Nationalkongress zu bestimmen. Aus 3700 Kandidaten, von denen ein kleiner Teil auf den Listen von 140 Parteien auftaucht und der Rest unabhängig kandidiert, soll ein 200-köpfiger Nationalkongress hervorgehen. Dieser soll die Wahl einer Kommission organisieren, die dann innerhalb von 12 Monaten eine Verfassung ausarbeiten soll. Angesichts von so viel Vertrauen in gewählte Repräsentanten hätte sich der junge Gaddafi wohl die schwarzen Locken gerauft.

Doch glaubt man Berichten aus dem Land, so haben sich die Libyer gut vorbereitet auf ihre ersten Wahlen. Im Gegensatz zu den Ägyptern haben sie sich externe Berater geholt, ohne dabei gänzlich das Heft aus der Hand zu geben. Die Carnegie-Stiftung etwa kommt in einer aktuellen Studie zu Libyen zu dem Schluss: "Insgesamt war die Organisation dieser lokalen Wahlen eine beeindruckende Vorführung von gelebter Demokratie, unabhängig organisiert von normalen Bürgern."

In Berlin ist eines von sechs Exil-Wahllokalen

Anhänger der Muslimbruderpartei "Gerechtigkeit und Aufbau" nach einer Wahlkampfveranstaltung in Tripolis.

Anhänger der Muslimbruderpartei "Gerechtigkeit und Aufbau" nach einer Wahlkampfveranstaltung in Tripolis.

(Foto: dpa)

Die Wahl ist ein ehrgeiziges Projekt, viele Wähler sind mit der großen Auswahl an Kandidaten und Parteien überfordert. Wer kann bei 3700 Kandidaten noch durchblicken? "Es wirkt nur anfangs kompliziert", versucht Nuri Graibei zu beruhigen. Der Exil-Libyer organisiert als "Nationaler Berater" die Wahlen für Exil-Libyer in Deutschland. Das Wahllokal im Berliner Prenzlauer Berg ist die einzige Anlaufstelle für die geschätzt 2000 Wahlberechtigten aus Deutschland, der Schweiz und Österreich. Gleichzeitig ist es eines von nur sechs Wahllokalen außerhalb Libyens weltweit. Weitere sind in Dubai, Saudi-Arabien, den USA, Kanada und Großbritannien.

An den Wänden der Schulkorridore des Berliner Wahllokals hängen auf mehreren Metern die Listen mit den vielen tausend Kandidaten. Wer wählen will, braucht angesichts dieser Masse an Wahlmöglichkeiten erst einmal eine Einweisung des eigens dazu geschulten Wahllokalpersonals. Danach folgt die Registrierung, schließlich setzen die Wähler hinter Pappwänden ihr Kreuzchen. Um zu verhindern, dass jemand doppelt wählt, muss jeder seinen Finger in eine Tinte tauchen, die erst frühestens fünf Tage später wieder abgewaschen ist.

Euphorie oder gar lange Schlangen vor dem Wahllokal sind allerdings nicht auszumachen – obwohl dies die erste libysche Wahl seit 1964 ist. Nur vereinzelt kommen an diesem Freitag Wähler herein, die ihre Stimme für den Allgemeinen Nationalkongress abgeben wollen. "Wahlen sind uns fremd", sagt Nuri Graibei, der seit 35 Jahren in Deutschland lebt. Trotzdem hofft er, dass bis zum Samstag noch mehr Leute zum Wählen kommen. An diesem Tag findet auch in Libyen selbst die Wahl erst statt.

Alte Anführer tauchen wieder auf

Nuri Graibei vom Berliner Wahllokal.

Nuri Graibei vom Berliner Wahllokal.

(Foto: Nora Schareika)

Eine weitere Aufgabe des neuen Nationalkongresses wird sein, eine neue Übergangsregierung zu bestimmen. Diese wird also vorerst nicht vom Volk gewählt. Der derzeit regierende Übergangsrat bildete sich im Februar 2011 aus Aufständischen. Ihr Vorsitzender ist Mustafa Abd al-Dschalil, früher Justizminister unter Gaddafi. Er hat für diese Wahl ein Parteienbündnis geschmiedet, das er "Allianz Nationaler Kräfte" genannt hat. 40 Parteien gehören dazu. Die Allianz soll ein Gegengewicht bilden zu verschiedenen islamistischen Gruppierungen, die ebenfalls zur Wahl stehen.

Eine dieser islamistischen Parteien heißt "Al-Watan" (Vaterland), ihr Anführer ist der bekannte Ex-Dschihadist und Rebellenführer Abd al-Hakim Belhadsch. Ihm wird nun nachgesagt, Geld aus dem Golfemirat Katar zu erhalten, um seine sehr professionell aufgezogene Wahlkampagne zu finanzieren. Belhadsch war einst Kopf einer islamistischen Kampftruppe. Als Rebellen im vergangenen Jahr Gaddafis Festung Bab al-Asisiya in Tripolis stürmten, war er ihr Kommandeur. Inzwischen gibt er sich sehr gemäßigt, tritt bei Wahlkampfveranstaltungen mit Baseballmütze auf. In seinen Reden beschwört er dann, seine Politik an den Grundsätzen des islamischen Rechts orientieren zu wollen.

Libyer sind optimistisch

Vor den libyschen Islamisten, über die jetzt viel berichtet wird, fürchtet sich Nuri Graibei in Berlin nicht. "In Libyen haben wir 100 Prozent Muslime. Da sind manche Linke frommer als irgendwelche selbsternannten Islamisten", meint er. Dass eine Partei sich den Islam in ihr Programm schreibe, ergebe schlicht keinen Sinn. Tatsächlich muten die Namen der antretenden Parteien eher nationalistisch an.

"Die tyrannischsten Diktaturen, die die Welt gekannt hat, existieren im Schatten der Parlamente", schrieb Muammar al-Gaddafi in seinem Grünen Buch. Graibei ist da sehr viel optimistischer. Vor etwa einem Jahr besuchte er nach 34 Jahren seine Heimat wieder. Sein 20 Jahre alter Sohn lernte da zum ersten Mal das Land seiner Eltern kennen. "Ich hatte größere Probleme erwartet", sagt er. Stattdessen habe er Aufbruchsstimmung erlebt. Stammeskämpfe wie die im Süden, über die in den vergangenen Tagen berichtet wurde, habe es immer gegeben. "Der Zug fährt jetzt durch", sagt der Industriekaufmann, der in Schwaben in der Holzbranche tätig war. Die Wahlen werden nur der Anfang auf dem langen Weg zu einer neuen Ordnung sein.

Quelle: ntv.de

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